77. Takt: Cadenza, pt. 3

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Es war ein eigenartiges Gefühl, die Treppen zu Kasimirs Wohnung hochzusteigen. Mit jeder Stufe flackerten Erinnerungen in Leos Gedächtnis auf. Das emotionale Wiedersehen am Hauptbahnhof vor zehn Monaten. Die Sorge in Kasimirs Blick, als Leo kurz nach ihrer Ankunft im Treppenhaus zusammengesunken war. Er hatte ihm nie erzählt, wie sehr ihn dieser Moment bewegt hatte. Wie schwer es ihm gefallen war, einen Fuß vor den anderen zu setzen im Wissen, dass die Funken, die ihm seit Monaten das Herz versengten, in Kasimirs Nähe nur an Hitze gewannen. Der Schmerz hatte sich in jede Zelle seines Körpers gefressen, aber er wäre lieber bis auf die Knochen niedergebrannt, als sich weiterhin etwas vorzumachen. Also war er vorwärts getreten, Seite an Seite mit dem Menschen, der dieses Feuer entfacht hatte. Und in diesem Augenblick durchlebte er die Szene als brennendes Déjà-vu.

Mit dem Unterschied, dass die Flammen nicht mehr wehtaten.

»Auf deinem Rücken war die Tour bequemer«, sagte Leo und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Kasimirs Atem ging erstaunlich ruhig, obwohl er sowohl Leos schwere Reisetasche als auch den Hasenkäfig mehrere Stockwerke allein hinaufgetragen hatte. Leo wusste, dass er ihm keine Hilfe anzubieten brauchte, aber die anhaltende Schweigsamkeit setzte ihm zu. Seit sie sich auf dem Bahnhofsvorplatz begegnet waren, hatte ihm Kasimir bloß seine Sachen abgenommen und schweigsam den Weg vorgegeben. Es fiel Leo schwer, seine Stille zu deuten, doch er hatte es nach dieser Aktion vermutlich auch nicht besser verdient.

Als sie die letzte Stufe vor der Wohnungstür hinter sich gebracht hatten, stellte Kasimir vorsichtig den Transportkäfig ab und griff in seine Hosentasche, um das Schlüsselbund hervorzuholen. Leo bemerkte, dass seine Finger zitterten, und es gelang ihm nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte er. Da Kasimir noch immer nichts erwiderte, griff er nach seiner Hand - und bezweckte damit nur, dass der Schlüssel klimpernd zu Boden fiel.

»Oh, warte, ich heb ihn auf ...«

Leo ging in die Hocke, wurde jedoch von einem dumpfen Geräusch in seinem Vorhaben unterbrochen und sah auf. Kasimir hatte seine Reisetasche fallenlassen und suchte erstmals, seit sie den Bahnhof verlassen hatten, seinen Blick. Seine Augen funkelten im trüben Licht der Flurleuchte und er brachte es offenbar nicht fertig, zu blinzeln. Diese Emotion hatte Leo zum letzten Mal vor der Frauenkirche gesehen. Am Abend, als ihre gemeinsame Melodie bunt über die angestrahlte Fassade geflimmert war.

Er erhob sich, trat einen Schritt auf Kasimir zu und berührte wie damals sein Gesicht. Als er sanft mit dem Daumen über seine Wange strich, begannen Kasimirs Lider zu zittern. Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn gegen Leos Schulter. Das Beben seiner Finger hatte sich auf seinen ganzen Körper übertragen und entlud sich immer wieder in einem feinen Zucken. Kein Wunder, dass er all die Zeit kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Seine Stimme war mit Sicherheit genauso brüchig wie seine Seele in diesem Moment.

Leo drückte ihn an sich und streichelte ihm sachte über den Hinterkopf.

»Lass uns reingehen«, wisperte er und schluckte den Kloß, der sich in seiner Kehle festsetzen wollte, herunter. »Dann erkläre ich dir alles.«


🎵🎵🎵


Fastfoodverpackungen. Zerrissene Notenblätter. Berge verschiedener Sockenpaare. Leo musste sich sehr zusammenreißen, angesichts der chaotischen Zustände in Kasimirs Wohnung nicht allzu entgeistert dreinzublicken. Kein Vergleich zu den gepflegten Räumlichkeiten, die er im vergangenen Jahr betreten hatte.

»Ich habe noch nicht sauber gemacht«, murmelte Kasimir und schob mit dem Fuß eine Aluschale zur Seite. Seine Stimme klang nach der langen Schonfrist so rau, dass Leo ein wohliger Schauer über den Rücken lief.

All Eyes On You [2]Where stories live. Discover now