Ohne Titel Teil4

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„Früüühstück!", bellte Tooru durch das Haus.
Mein Gott, schlief er etwa immer noch? Die Uhr zeigte schon halb elf. Er war doch gestern so zeitig ins Bett gegangen.
„Es gibt Frühstück!" Mit den Händen in den Hüften stand Tooru an der Treppe zur Etage.
Das gibt's doch nicht!
Wütend schritt er die Stufen nach oben und folgte dem schmalen Flur zu dem Zimmer seines neuen Mitbewohners. Schwungvoll schob er die Schiebetür zur Seite.
„Sag mal, hörst du schwer?! Ich habe dich mehrmals gerufen, dass das E-"
Er stoppte.
Mitten im Raum stand Hajime.
Oberkörperfrei.
Er war gerade dabei sich die Hose über seinen wohlgeformten Hintern zu ziehen. Diesen Fakt registrierten Toorus Augen schnell. Einen Ticken zu schnell, wie er fand.
Unschuldig sah Hajime zu ihm.
„Entschuldigung, ich war vorher noch kurz im Bad. Gestern war ich so fasziniert davon, wie schnell warmes Wasser aus den Rohren kam, dass ich vorhin nochmal mein Glück versucht habe."
Tooru konnte seine Augen nicht von seinem Gegenüber abwenden, egal, wie sehr er es versuchte. Die Brustmuskulatur seines Mitbewohners forderte all seine Aufmerksamkeit. Daher wiederholte er nur: „G-Glück?"
„Ja, und es hat wieder geklappt."
„Das hat nichts mit Glück zu tun! Wenn du den Regler auf rot stellst, kommt das automatisch raus." Froh, um die Ablenkung.
„Du meinst immer, wenn ich duschen gehe?" Hajime drehte sich leicht in seine Richtung.
Tooru nickte bedächtig.
„Wahnsinn." Hajime knotete den Band der Jogginghose zusammen, während Tooru mit seinen Augen die dunkle Haarlinie über dem Bund fokussierte. Bei jedem Atemzug bewegte sie sich.
Und er warf ihm vor ordinär zu sein?! Dieser Anblick sollte verboten werden!
„Ist noch was?"
Tooru schreckte hoch und drehte sich auf dem Absatz um. Im Gehen rief er noch: „Wir sehen uns beim Essen! Beeil dich!"

Nach dem gemeinsamen Abwasch suchte Tooru passende Schuhe für Hajime heraus. Wie sich herausstellte, hatten sie beide die gleiche Größe.
„Wir können leider nicht in die nächst größere Stadt fahren, aber nicht weit von hier, gibt es einen kleinen Laden der Kleidung verkauft. Eine Straße weiter ist auch der Supermarkt. Da können wir danach was einkaufen. Der Kühlschrank ist nämlich leer."
Auf dem Weg zur Haltestelle fragte Tooru: „Möchtest du was Bestimmtes zu Essen haben für das Wochenende?"
Hajime zuckte nur mit den Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
„Mir ist alles recht. Ich bin nicht sonderlich wählerisch."
„Hast du kein Lieblingsessen, oder so?"
„Ich weiß nicht mehr."
„Aber mein Essen hat dir geschmeckt?"
„Ja."
„Was hältst du dann von Curry heute Abend? Ich habe noch das Spezialrezept von meinem Opa."
Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er nur daran dachte!
„Wir können auch extra viel Fleisch machen, wenn du magst. Schweine- oder Rindfleisch?"
Als keine Antwort kam, drehte sich Tooru nach seinem neuen Anhängsel um.
Hajime stand ein Stück entfernt an der Bordsteinkante und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Die Augen leuchteten bei jedem Wagen in einem hellen Grünton auf. Er schien sich jedes noch so kleine Detail einzuprägen. Gerade wirkte er wie ein kleiner Junge.
Um ihn nicht zu erschrecken, überbrückte Tooru die Distanz und zupfte ihm sanft am Ärmel.
„Hajime?", fragte er leise.
Dieser zuckte dennoch zusammen.
„Entschuldigung, ich war nur so ... fasziniert von der Fülle an Fahrzeugen."
„Kein Problem, nur ... da vorne kommt unser Bus. Wir sollten uns echt beeilen."
Hajime nickte und folgte Tooru schnellen Schrittes.
Am Montagmorgen quälte sich Tooru aus dem Bett. Er hatte keine Lust stundenlang in der Uni zu hocken, obwohl er sein Studienfach sehr liebte. Doch er wollte nun viel lieber mit seinem neuen Freund abhängen. Insgeheim hoffte er ja immer noch, dass Hajime ein Außerirdischer in Menschengestalt war.
Als er im Genkan seine Sneaker anzog, kam Hajime die Treppen hinunter gestiegen.
„Willst du nichts Essen, bevor du zur Schule gehst?"
„Ich gehe nicht in die Schule! Ich gehe zur Universität, weil ich studiere!", empört schnaubte Tooru.
War der zu blöd sich solche einfachen Fakten zu merken oder wollte er ihn nur ärgern?
Das Gesicht seines Gegenübers war – mal wieder - unergründlich.
„Dann mache ich etwas zu essen, wenn du nach Hause kommst."
„Ja ja, mach doch was du willst. Das Haus gehört ganz dir, fackel es nur nicht ab."
Missmutig stapfte er aus der Tür. Komischerweise sehnte er sich gerade doch sehr nach den Vorlesungen.

Hajime verbrachte den Tag damit, das Haus ganz in Ruhe zu erkunden. Schließlich hatte der Junge ihn dazu eingeladen.
In der recht großen Bibliothek fand er Bücher, die ihm sehr bekannt vorkamen. Irgendwie hatte er das Gefühl, den Inhalt schon einmal gelesen zu haben. Aber das konnte nicht sein, oder?
Als er an den Regalreihen entlangging, zog er immer wieder Bücher heraus und dann fiel ihm eine dunkle Holztür in der hinteren Ecke auf.
Neugierig näherte er sich dieser und schob sie nach kurzer Überlegung mit einem Schulterzucken zur Seite. Tooru hatte schließlich gemeint, ihm war alles erlaubt.
Er fand sich in einem kleinen Arbeitszimmer wieder.
Ein Arbeitszimmer...? Wahnsinn, hier sind ja noch mehr Bücher!
Alles war fein säuberlich an seinen Platz geräumt, nur die Wälzer stapelten sich überall. Der Raum wirkte wie frisch geputzt.
Ein Bild über dem Schreibtisch fiel ihm ins Auge. Er ging näher, um es zu betrachten.
Es zeigte einen kleinen Tooru mit seinem ... Großvater? Vermutlich. Er sah ihm total ähnlich. Hajime musste unwillkürlich bei der Abbildung der jüngeren Ausgabe seines Retters schmunzeln. Er sah total niedlich aus in der Grundschuluniform.
Tooru hatte genau die gleichen warmen, braunen Auge, wie sein Opa ... Moment. Das war keine Schwarz-Weiß-Fotografie. Das Foto strahlte in sämtlichen Farben!
Der Kalender schräg gegenüber verschaffte ihm in seiner vagen Vermutung Gewissheit: Juni 2014 – das 21. Jahrhundert.

„Tooru!"
Er bekam eine Kopfnuss. „Aua!"
„Dann träum nicht vor dich her. Ich habe dich etwas gefragt!"
„Was denn?!" Genervt kaute Tooru an seinem Bleistift. Er wollte gerade lieber in seinen Tagträumen versinken.
„Heute hast du nichts vor, oder? Vor dem Bahnhof-"
„Ah, ich kann eine Weile nicht", blockte Tooru die Anfrage ab.
„Echt jetzt?! Bist du so beschäftigt?!"
„Na ja, vorerst. Sich einzugewöhnen braucht Zeit ..."
„Sich einzugewöhnen? Geht's um was Schlüpfriges? Es geht um Sex, oder?" Makki wackelte mit seinen Augenbrauen.
„Nein!", lehnte Tooru sofort ab. Eine leichte Rötung seiner Wangen konnte er jedoch nicht verhindern.
Seit Makki aus Italien wieder zurückgekehrt war, schien er es zu seinem Lieblingsthema erkoren zu haben. Mattsun amüsierte sich immer schmunzelnd über Makkis übertriebene Vorstellungen, während Tooru bei manchen Ausführungen lieber im Erdboden versinken wollte. Nicht, dass er prüde war, oder so. Es gab nur einfach Situationen, in denen er sich seine besten Freunde lieber nicht vorstellen wollte. Schlimm genug, dass er ganz genau wusste, welche Utensilien sich in der Nachttischschublade seines Kumpels tummelten. Dabei hatte er bei einer Übernachtungsparty seines Freundes nur ein Ladekabel gesucht.
„Hast du keinen neuen Freund?", mischte sich nun auch Mattsun ein, während er großzügig seine Chicken Nuggets in die Barbecue Soße tunkte.
„Das geht euch gar nichts an!"
„Und ob es uns was angeht. Wir müssen schließlich dein Gejammer ertragen, wenn du mal wieder abserviert wurdest."
„Das ist doch gar nicht wahr! Mit Ushijima habe ich Schluss gemacht!"
„Wer's glaubt."
Provokant schlürfte Makki seinen Milchshake.
Tooru schob beleidigt seine Unterlippe nach vorn und schmollte. Das sie mit ihrer Vermutung richtig lagen mussten sie ja nicht wissen. Der Fakt, dass seine Beziehungen nie lange hielten kratzte sowieso schon genug an seinem Selbstwertgefühl.
... „Du bist viel zu sehr beschäftigt mit dir selbst. Denkst du auch mal an andere Leute?"...
Yahaba seufzte. „Ach Mann. Ich hatte gehofft, wir könnten endlich mal wieder gemeinsam als Gruppe zum Karaoke. Vielleicht wären auch mal ein paar Mädels mitgekommen."
„Wir können auch ohne den Lappen hier gehen, dann geben Mattsun und ich wieder unser Duett zum Besten!"
„Auf euer Geplöke kann ich gut verzichten!", meckerte Yahaba.
Die beiden selbsternannten Superstars begannen fröhlich die ersten Takte ihres Liedes einzustimmen. Das dabei der ganze Campus mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihnen glotzte, störte sie nicht im Geringsten. Manchmal fand Tooru seine Freunde ziemlich peinlich. Kein Wunder, dass er dann selbst immer so kindisch war. Eine Eigenschaft, die er an sich gar nicht mochte.
„Tooru, wollen wir schon mal zum Hörsaal gehen? Die zwei Spinner können dann hier ja allein ihr Konzert geben."
Nichts lieber als das.
Tooru packte seine Sachen zusammen, erhob sich und verließ mit einem genervten Yahaba den gemütlichen Vierertisch in der Mensa, jedoch nicht, ohne seinen beiden Freunden noch einmal die Zunge raus zu strecken.

Als er später am Tag endlich den Heimweg antrat, kreisten seine Gedanken um seinen neuen Mitbewohner. Die Tatsache, dass er sich immer noch nicht an seine Vergangenheit erinnern konnte, bereitete Tooru teils schlaflose Stunden, nicht, dass er sonst ein besonders guter Schläfer war. Viel zu oft hielten ihn unerwünschte Gedanken wach. Doch nicht nur er schien damit Probleme zu haben. In den letzten Nächten wurde Tooru durch einen lauten Schrei mitten in der Nacht geweckt.
Jedes Mal war er aufgeschreckt und in das gegenüberliegende Zimmer gestolpert, in dem sein Gast untergebracht war.
Hajime hatte er immer Schweiß überströmt und schwer atmend mit leeren Augen an die Decke starrend vorgefunden.
Auf die Frage, ob alles in Ordnung war, bekam er nie eine richtige Antwort. Was war so schrecklich, dass er sogar seinen Namen vergaß und nun auch unter Albträumen litt?
Wie auch immer, eine vierte Nacht würde er das nicht aushalten. Seine Augenringe waren jetzt schon so dunkel wie die unergründeten schwarzen Löcher.
Da half auch kein Concealer mehr.
Zu Hause angekommen würde er sich erst einmal für ein Stündchen hinlegen, bevor er sich an den Unikram setzte. Die letzte Stunde zum Thema „Stabilität von Baumaterialien" hatte seine ganze Energie wie eine Strömung aus seinem Körper gezogen. Bei einem Rundumblick durch den Saal schien es den meisten anderen Studenten allerdings auch so zu ergangen zu sein.
Schwer seufzend öffnete er die Haustür und wurde sogleich von einem lauten Stimmengemurmel begrüßt, das verdächtig nach einer Talkshow klang. Kami-sama, war der Typ etwa schwerhörig? Wieso machte er den Fernseher nicht leiser?!
Davon bekam er ja direkt Kopfschmerzen.

„Tooru? Bist du's"
Besagter schlappte mit seinen Pantoffeln zum Wohnzimmer. Dort begrüßte ihn Hajime mit leuchtenden Augen.
Ach, so konnte er also auch gucken?
„Was ist das hier? Ein farbiger Projektor? Wahnsinn!"
„Ääh das ist ... ein Fernseher."
Tooru schnappte sich die Fernbedienung von der Couch und korrigierte die Lautstärke nach unten. Eine Wohltat für seine Ohren.
„Ein Fernseher?"
„Mann, hast du was mit den Ohren, oder warum ist das so laut?"
„Ich wusste nicht, wie das funktioniert. Ich wollte mich nur auf das Sofa setzen und plötzlich ging das Ding an!" Eifrig zeigte Hajime auf den großen Bildschirm.
„Das Ding ist ein Fernseher und das hier die Fernbedienung." Tooru hielt ihm den kleinen Zusatz hin. Hajime untersuchte mit wissbegierigen Augen das schwarze Teil.
„Das hat ja verdammt viele Tasten! Was passiert, wenn ich hier drauf drücke? Und wieso ist das Teil so flach wie eine Tafel? Bitte erkläre es mir! Die Funktionsweise interessiert mich brennend!"
Schwer seufzend ließ sich Tooru neben seinem Mitbewohner auf die Couch fallen und zog sein Handy heraus.
Er tippte Anleitung für Fernbedienung in das Suchfeld, öffnete den ersten Artikel in der Ergebnisliste und hielt das Smartphone Hajime vor die Nase.
„Hier. Lies das dazu und lass mich in der Zwischenzeit ein Nickerchen halten." Tooru zeigte ihm noch schnell wie er im Text scrollte und gähnte dann herzhaft.
Gleich darauf kippte er zur Seite und legte sich der Länge nach auf die Couch. Hajime war inzwischen auf den Boden vor die Sitzgelegenheit gerutscht und lehnte mit dem Rücken am Stoff.
Kurz vorm Einschlafen zuckten Toorus Augen zu dem entblößten Nacken vor ihm. Das neu gekaufte Shirt umspielte den muskulösen Schulterbereich ganz wunderbar und das satte Orange brachte den leicht getönten Hautton gut zur Geltung. Tooru lächelte schlaftrunken. Das hatte er gut ausgesucht.
Ein paar Sekunden später landete er im Land der Träume.

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