01 | BAHNHOF UND FAHRRÄDER.

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Ἄνθρωπος μικρὸς κόσμος.
Der Mensch ist eine kleine Welt.

NEBEN TOIVO KOMME ich mir klein vor, dabei überrage ich ihn um mindestens einen halben Kopf

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NEBEN TOIVO KOMME ich mir klein vor, dabei überrage ich ihn um mindestens einen halben Kopf. Er sorgt dafür, dass ich mich nicht länger wie ein unhandlicher Gigant fühle, während die Temperaturen im Abteil im Gegenzug in die Höhe zu schießen scheinen. Alles fühlt sich wärmer an, obwohl wir an nebelverhangenen Landschaften vorbeifahren, die in der überraschenden Kühle des kommenden Herbstes ertrinken.

Meine Blicke fliegen immer wieder zu dem Jungen hinüber, der sich auf der anderen Seite des Abteils niedergelassen hat. Er trägt einen dunkelbraunen Strickpulli und darüber ein dunkelgrün- und weißkariertes Hemd, dessen Ärmel er hochkrempeln musste, sonst wäre es ihm zu groß. Ich mag den grünen Farbton; er erinnert mich an den Wald meiner Jugend und Baumkronen im Spätsommer. Beinahe kann ich das Rauschen der Blätter hören.

Toivo ist erst vor einigen Minuten in der Tür erschienen. Hat mit einem entschuldigenden Lächeln an das Glas geklopft und solch einen mitleidigen Ausdruck auf dem Gesicht getragen, dass ich es einfach nicht geschafft habe, ihm die Bitte abzuschlagen. Also hat er seinen braunen Koffer in mein Abteil gewuchtet, ist dabei mehrmals über die eigenen Füße gestolpert. Dann hat er mir seinen Namen genannt, und ich ihm meinen.

Seitdem er aufgetaucht ist, fühle ich mich klein. Eine gute Art von klein. Als würde ich plötzlich nicht mehr unangenehm herausstechen und ich kann mir nicht erklären, wie Toivo das geschafft hat. Das Einzige, was er getan hat, war mir ein Wort zu geben, mit welchem ich ihn ansprechen könnte.

»Findest du das Wetter auch traurig?«

Überrascht zuckt mein Blick zu meinem Gegenüber. Er hat eine seltsame Art, die Wörter zu betonen. Es fällt kaum auf, aber ich merke es trotzdem. Er stolpert über manche Silben, verhederrt sich zwischen einzelnen Buchstaben, muss Anlauf für das nächste Wort nehmen.

Die Hände hat er in seinen Hosentaschen versteckt, seine Wangen sind noch immer gerötet, obwohl er mir schon einige Minuten gegenüber sitzt, die dunklen Augen scheinen zu strahlen. Er hat den Kopf gedreht, sieht weiterhin nach draußen, beobachtet die Landschaft, die der Nebel gierig verschluckt. Die gräulichen Schwaden nehmen alles in sich auf, lassen uns gerade noch die Umrisse der hohen Tannen erahnen, an denen wir vorbeiziehen.

Er wartet nicht auf meine Antwort.

»Magst du Nebel?«, stellt er mir auch schon die nächste Frage. Blickt mich dabei schließlich an und scheint sich dieses Mal wirklich eine Antwort zu erhoffen.

Es irritiert mich. Er irritiert mich.

»Keine Ahnung«, sage ich leise. Es ist das Erste, was mir einfällt, und ich weiß nicht einmal, ob es der Wahrheit entspricht.

Meine Finger knicken die Ecke meiner Seite. Das Notizbuch ist voller geknickter Ecken und schiefer Kanten und hastig gekritzelter Worte. Dazwischen gibt es Kaffeeflecken und chaotische Zeichnungen, die nicht mir gehören. Sie sind das Einzige in diesem Notizbuch, was nicht mir gehört. Sie stammen aus Caspars Hand, weil er trotz seiner Leidenschaft zum beobachtenden Skizzieren nie ein Blatt dabei hat und sich in Cafés immer meine Utensilien stibitzt, während ich in Texten versinke, die ich nie für die Uni bearbeiten werde. Stattdessen versuche ich mithilfe von griechischen Mythen der Realität zu entfliehen. Caspar tut sich schwer, mir Ruhe zu gewähren, aber er bezahlt mir als Schadensersatz alle unzähligen Teetassen, die ich in diesen Stunden leere, während er den Kakao in sich stürzt, für den das Café berühmt ist.

DER FINNE UND DER GRIECHEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt