#𝟘𝟜

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Masha Karminsky:

'Somehow we drifted off too far
Communicate like distant stars
Splintered voices down the phone
The sunlit dust, the smell of roses drifts, oh no
Someone waits behind the door
Hiroshima mon amour'

Mitten im Song schaltete ich meinen alten Plattenspieler aus. Ich mochte es zwar, wenn im Hintergrund Musik lief, während ich arbeitete, aber nicht dann, wenn allerhöchste Konzentration gefragt war. In diesem Fall war es zwar keine Konzentration auf schwierige historische Texte oder uneindeutige Quellen, sondern das Fehlerlesen meines Manuskriptes. Immerhin waren es 40.000 Wörter, die ich da über die Entwicklung Osteuropas nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben hatte und nun veröffentlichen wollte. Es waren keine neuen Forschungsansätze meinerseits darin eingebaut, lediglich hatte ich die Arbeit anderer Historiker aus meinem Fachgebiet, der Geschichte des Osteuropas der Neuzeit, zusammengefasst. Aber das hatte auch schon genug Arbeit beansprucht.
Ich setzte mich wieder an meinen großen Schreibtisch, der in dem geräumigen Arbeitszimmer mit den hellblauen Wänden und dem hölzernen Mobiliar am Fenster stand. In meinem Arbeitszimmer war es im Gegensatz zum Rest meines Hauses hin und wieder ein wenig unaufgeräumt, zum Beispiel lagen überall Bücher herum und auf dem Boden, insbesondere in den Ecken des Raumes stapelten sich die Umschläge der Vinylplatten, die ich auf meinem alten weißen Plattenspieler abspielte, den ich normalerweise im Wohnzimmer stehen hatte.
Ich hörte alles mögliche an Musik. Aber beim Arbeiten tendierte ich dann doch eher zu Rock und New Wave aus den 80ern und 90ern.

Ich ging jede einzelne Seite meines Manuskripts durch, überprüfte flüchtig auf Rechtschreib- und Logikfehler. Die Rechtschreibprüfung hatte mir nicht viel gesagt, außerdem konnte ein solches Programm zwar ein paar schwerwiegendere Rechtschreibfehler erkennen und darauf hinweisen, aber wenn ein Satz keinen Sinn machte, dann war ich dafür selber verantwortlich. Nach zehn Seiten war ich schon fast ein wenig müde und Fehler korrigiert hatte ich kaum welche. Es war fast langweilig. Zumal ich, wenn ich das Manuskript abschicken würde, erst einmal nichts mehr zutun haben würde. Und durch meine harte Arbeit an diesem Manuskript in den letzten Wochen bis Monaten, wusste ich kaum noch, wie sich Freizeit beziehungsweise das alltägliche Nichtstun anfühlte.
Meinen Text laß ich ein weiteres Mal flüchtig durch, bevor ich mich dazu entschloss, ihn endlich abzuschicken, schließlich hatte es keinen Zweck, ihn mir dutzende Male hintereinander durchzulesen, um nach Fehlern zu suchen, die gar nicht da waren.

Ich hatte schon unendliche Male in den letzten Jahren Manuskripte von mir abgeschickt, wodurch ich mir die Nervosität ein wenig nehmen konnte, als ich meinen Laptop runterfuhr und von meinem Schreibtischstuhl aufstand. Ich hatte nach dem Abschicken fast nichts mehr zutun, weswegen ich mich den Sachen von meiner Arbeit abgesehen widmete. Die Ordnung in meinem Haus, die sowieso eher selten durcheinander geriet, da ich mindestens einmal im Monat mein gesamtes Haus aufräumte.
Danach war es erst kurz nach Mittag und ich beschloss kurzerhand, mich auf den Weg in die Stadt zu machen, um vielleicht einen Kaffee trinken zu gehen, oder sowas. Schließlich hatte ich nun erst einmal frei, zumal es ein paar Tage dauern würde, bis ich von den Verlegern eine Antwort auf mein Manuskript erhalten würde.
Für die Fahrt in die Innenstadt entschied ich mich wie so oft für den Bus, schließlich wäre es meiner Meinung nach Verschwendung gewesen, mit dem Auto zu fahren und außerdem tat ich das sowieso nicht besonders gerne, Auto fahren. Aber das war eine andere Sache, die schon seit etwas mehr, als zehn Jahren ein Bestandteil meines Lebens war.
Im Bus saß ich meistens vorne, irgendwo am Fenster und sah nach draußen, während ich über meine Kopfhörer Musik hörte. Eine Aktivität, die man vielleicht isolierten Jugendlichen oder einsamen Studenten zuschreiben würde, aber nicht einer über 30 jährigen Historikerin. Auch, wenn ich, diese Historikerin, ein eher introvertierter Mensch war. Nicht verschlossen oder schüchtern, sondern einfach nur lieber alleine, ohne zu viele Menschen und ohne zu viele Reize durch die Außenwelt. Dabei differenzierte ich jedoch klar zwischen dem stressigen Trubel in den Einkaufsstraßen, Shopping-Centren und gar Bars und Partys mit vielen lauten Menschen, die sich untereinander selten kannten auf engstem Raum und anderen Arten von Begegnungen mit der Welt außerhalb meines Hauses, meines Gartens und den Bibliotheken der Stadt.

'Riding inter-city trains
Dressed in European grey
Riding out to echo beach
A million memories in the trees and sands, oh no
How can I ever let them go?
Hiroshima mon amour'

Ich hörte das Lied weiter, welches ich vorher auf meinem alten Plattenspieler zuhause abgespielt hatte. Verbinden tat ich mit dem Text auf den ersten Blick eher nicht viel, aber wenn ich an die Millionen Erinnerungen in meinem Kopf dachte, die Guten, als auch die Schlechten, dann war mir so einiges klar. Und mir war dann auch klar, dass es nicht einfach sein würde, diese wieder loslassen zu können. Und während das bei den Guten Sachen etwas war, wovon ich profitieren konnte, war es bei den schlechten Sachen ein Problem. Alles schlechte, was mir bis jetzt in meinem Leben passiert war, war in meinen Kopf eingebrannt und würde sich nie wieder löschen können, selbst, wenn ich es versucht hätte. Ein kleines Fragment würde von allen negativen Erinnerungen und Gefühlen bleiben.
Ich stieg an der Haltestelle bei der Fußgängerzone aus und obwohl ich wusste, wo ich hin wollte, sah ich mich um. Um mich herum gingen viele Menschen umher, die einkauften und offensichtlich nicht aus dieser Stadt kamen und die nur ein Zeichen dafür waren, dass bald die offiziellen Osterferien anfangen würden, sie in ein paar anderen Bundesländern schon angefangen hatten. Zumal zwischen ein paar Rentnern auch Familien mit Kindern zu sehen waren, die an den Läden vorbeigingen.
Ich bog in eine kleine Gasse ein, in der sich neben ein paar kleinen Läden auch ein Café befand, in dem ich manchmal war. Vor allem dann, wenn ich die Manuskripte für meine Bücher und Artikel schrieb und nebenbei ausnahmsweise mal nicht die kratzigen Klänge von New Wave Musik aus meinem Plattenspieler hören wollte. Mit den Menschen war es in dem Café kaum ein Problem für mich. Es waren schließlich selten mehr als fünf Leute, die Bedienungen mit einbezogen dort, weswegen es meinen introvertierten Charakter nicht direkt herausforderte. Es war an manchen Tagen sogar viel schöner für mich, an einem anderen Ort als dem Arbeitszimmer in meinem Haus zu sitzen und dabei trotzdem nicht mit zu vielen Menschen in Kontakt zu kommen. Eigentlich war der einzige, der immer dort war der alte Mann mit seinen Zeitungen. Und hätte ich nicht diese introvertierte Ader in mir, wegen der ich lieber alleine irgendwo saß, dann wäre ich mit ihm schon längst ins Gespräch gekommen und vielleicht hätte er mir etwas von sich erzählt. Vielleicht, wie das Leben in den 40er und 50er Jahren für ihn war oder sowas ähnliches. Zumindest wäre dabei der geschichtliche Aspekt für mich als Historikerin interessant gewesen und die Weisheiten und Erfahrungen, die eine ältere Person mitbrachte hätten sicherlich einen Platz in meinem Langzeitgedächtnis. Aber ich war eben nicht so eine, die schnell auf andere Menschen zukam und schon garnicht in ein Gespräch geraten wollte. Wie schon gesagt; ich war weder schüchtern, noch total verschlossen, aber meine Zeit verbrachte ich doch lieber alleine und reden tat ich nur, wenn es wirklich notwendig war.
In der Spiegelung der Glasscheiben der Fenster des Cafés sah ich mich selbst. Meine Haare, die ich an meinem Hinterkopf mit einer weißen Klammer befestigt hatte, waren leicht unordentlich und hingen mir in ein paar Strähnen ins Gesicht, wahrscheinlich auch durch den Wind draußen. Ansonsten trug ich ein schwarzes Outfit und meine olivfarbene Daunenjacke, dazu schwarze, knöchelhohe Stiefel.
Ich betrat das Café. Ein Tisch, der ganz hinten in der Ecke stand, war nicht besetzt. An den zwei Tischen vorne rechts von mir befanden sich an dem einen zwei Frauen, die sich heiter über irgendwas unterhielten und an dem anderen Tisch saß der alte Mann wieder mit einer Zeitung in den Händen. Er sah mich an. Dann schaute ich nach links und sah zu der jungen Frau, die an dem kleinen Tisch direkt am Fenster saß und zuerst nach draußen auf die Fußgängerzone und dann zu mir sah, während sie ihre Tasse Kaffee in der Hand hielt. Irgendwie kam sie mir ein bisschen bekannt vor, aber nicht so, als würde ich sie aus dem Café kennen, oder als hätte ich mich schon einmal mit ihr unterhalten. Letztendlich setzte ich mich an den Tisch ganz hinten links in der Ecke. Dort saß ich generell fast immer, wenn ich in dem Café war. Und das belief sich schon auf ein- bis zweimal pro Woche. Manchmal trank ich nur schnell einen Milchkaffee und blieb nicht einmal eine halbe Stunde lang, während ich mich an anderen Tagen mit meinem Laptop und meinen Notizen an dem Tisch ausbreitete und auch mal gute drei Stunden blieb. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum mich die Bedienung mittlerweile mit Namen kannte, obwohl ich mit ihr noch nie mehr, als das Nötigste mit ihr geredet hatte.
„Frau Karminsky... Gut, Sie mal wieder hier zu sehen", kam genau in dem Moment Anna, die Bedienung auf mich zu und ich sah zu der mittelalten Frau mit der braunen Bobfrisur. Ich lächelte festgefahren. „Ja".
Dann entschied ich mich, zu bestellten. Ich hielt nichts davon, Gespräche nach dem Motto 'Schön, dass du da bist' besonders zu vertiefen.
„Ich nehme einen schwarzen Tee". Anna nickte und verschwand dann lächelnd zur Theke. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Die zwei Frauen, die sich so fröhlich unterhalten hatten, bezahlten gerade bei der anderen Bedienung, deren Namen ich noch nicht kannte und der alte Mann laß immer noch seine Zeitung.
Und die junge Frau am Fenster existierte einfach.

NostalgiaWhere stories live. Discover now