Kapitel 17: Briefe - Teil 1

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Die Feuerkorn-Steppe war eine weite Landschaft aus trockenen Gräsern, die sich bei jedem Windstoß leicht hin und her wiegten. Sie lag direkt östlich des Windlinien-Hangs, an dem die Gämsen-Pagode gebaut war, aber die Flanke auf der Ostseite war zu steil, als dass man über sie zur Val-Gilde gelangen könnte. Wie auch schon bei ihrer Anreise mussten Rin Verran und Rin Raelin also einen Umweg nehmen, der sie über den Fernen Strom führte und von wo aus sie dann wieder nach Süden gingen, um beim Phönix-Hof anzukommen.

Je näher sie ihrer Heimat kamen, desto nervöser wurde sie. Wahrscheinlich war der Großteil der Anhänger der Rin-Gilde schon zurückgekehrt. Wenn sie beide die letzten waren, würden sie erstmal eine Standpauke bekommen, bevor sie überhaupt etwas sagen durften. Hinzu kam die Tatsache, dass sie Jhe Newin und nicht Val Zirro als Meister hatten, was ihrem Vater bestimmt nicht gefallen würde.

Wie nach einer stummen Absprache zögerten sie ihre Ankunft am Phönix-Hof immer weiter hinaus, aber irgendwann kreuzten die ersten Anhänger der Rin-Gilde trotzdem ihren Weg. Einer von ihnen war auf seinem Pferd wahrscheinlich sofort zu Rin Baleron geeilt und hatte ihm mitgeteilt, dass seine Söhne auf dem Weg zurück waren, denn noch am Abend desselben Tages kam eine berittene Eskorte auf sie zu. Rin Raelin hätte eigentlich liebend gerne abgelehnt, auf eines der Pferde zu steigen, aber er wollte sich keine Blöße geben, und so trabte er mit fest zusammengepressten Kiefern hinter den anderen her, bis sie am Phönix-Hof ankamen.

Der Wohnsitz der Rin-Gilde bestand aus mehreren Gebäuden, die teilweise so weit auseinander standen, dass es schon leichter wäre, stetig ein Pferd zu haben, um von Tür zu Tür zu reiten. Allerdings gab es hier nicht viele Pferde. Die einzigen, die da waren, wurden als Zugtiere benutzt oder gehörten den Anführern der Gilde und ihren wichtigsten Anhängern. In der Feuerkorn-Steppe war Wasser knapp. Der nächste Bach war etwa einen Tagesritt entfernt und das Grundwasser in den Brunnen stand manchmal so niedrig, dass man mehrere Anläufe brauchte, um einen Eimer voll hoch zu holen. Im Sommer war es besonders schlimm. Daher gab es einen eigenen Wasserspeicher, der in der großen Lagerhalle stand und immer wieder aufgefüllt wurde. Trotzdem wollte man dieses Wasser nicht für zu viele Pferde oder andere Nutztiere verschwenden. Das meiste Fleisch wurde deshalb von umliegenden Dörfern hierher transportiert.

In der Mitte des Phönix-Hofs befanden sich die zwei größten Gebäude. In dem einen, das Sonnen-Palast genannt wurde, wohnten die Gilden-Anführer und ihre Familie, während das andere dazu diente, Gäste unterzubringen und zu empfangen. Dies war die Flammen-Halle, in der Rin Baleron nun auf seine zwei Söhne wartete.

Rin Verran stieg als erster vom Pferd ab und blieb stehen, bis Rin Raelin es ihm gleich getan hatte. Sein Bruder tat zwar sein Bestes, um seine Furcht zu verbergen, doch Rin Verran kannte ihn so gut, dass er am leichten Zucken seiner Lippen seine Nervosität erkennen konnte. Zusammen stiegen sie die Stufen zur Flammen-Halle hoch, auf deren Dach das Zeichen der Rin-Gilde wehte: Gelbe Flammen auf schwarzem Grund. Bevor sie den Fernen Strom überquert hatten, hatten sie auch daran gedacht, ihre Kleidung zu wechseln, sodass sie nun nicht mehr das Grün der Val-Gilde, sondern das Schwarz der Rin-Gilde trugen.

Als das Tor aufschwang, traten sie ein und gingen bis nach hinten durch, wo ihr Vater und Rin Narema schon auf sie warteten. Rin Raelins Mutter hatte ein scharfkantiges Gesicht, eine spitze Nase und ein fast genauso spitzes Kinn. Die Augenbrauen waren fast immer zusammengezogen, sodass auf ihrer Stirn eine steile Falte erschien. Auch jetzt war diese Falte zu sehen, doch gleichzeitig leuchteten ihre Augen hell auf.

Tu nicht so, als würde es dich freuen, mich zu sehen, dachte Rin Verran, während er sich vor den beiden Gilden-Anführern verbeugte. Rin Narema hatte ihn noch nie ausstehen können. »Blut ist dicker als Wasser«, sagte sie immer wieder. »Familie ist wichtiger als Freundschaft.« Und er war nunmal nicht mit ihr verwandt. Dabei hielt sie sich selbst nicht an ihre Parole. Es wurde gemunkelt, dass sie nach der Hochzeit mit Rin Baleron kein Wort mehr mit ihren Eltern oder überhaupt mit irgendjemandem aus ihrer Heimat-Gilde gesprochen hatte. Aber man durfte das keinesfalls in ihrer Gegenwart erwähnen. Niemand konnte genau sagen, was einen dann erwartete und niemand wollte das herausfinden.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt