Zen Ramka kehrte zu Jhe Newins Zimmer zurück und klopfte vorsichtig an die Tür. In letzter Zeit war seine Laune noch wechselhafter als das Wetter im Herbst, der bereits angebrochen war. Draußen hatten die Bäume im Garten der Gämsen-Pagode ihre Blätter entweder verloren oder sie leuchteten in hellen Gelb- und prächtigen Rottönen. Sie mochte diese Jahreszeit. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass im Herbst die spannendsten Sachen passierten. Nur war genau so eine Sache ihm erst vor einem Monat zum Verhängnis geworden. Eine Lungenentzündung, an der er letztendlich gestorben war. Eigentlich hätte sie zum Echsen-Tempel zurückkehren müssen, um ihrer Mutter beizustehen, aber sie durfte diese Arbeit nicht verlieren. Jetzt erst recht nicht. Und die Zen-Gilde war ohnehin schon am Ende. Das musste sie sich wohl oder übel eingestehen.
»Komm rein«, ertönte Jhe Newins Stimme von drinnen.
Zen Ramka konnte nicht sagen, ob er gerade schlecht oder sehr schlecht gelaunt war, trat aber trotzdem ein. Alles sah so aus wie immer. Mit dem einzigen Unterschied, dass auf dem Tisch ein Tintenfleck zu sehen war, den er anscheinend nicht weggewischt hatte.
»Hast du die Briefe abgeschickt?«, fragte Jhe Newin, den Rücken ihr zugewandt.
»Ja, Meister Jhe«, antwortete sie. »Soll ich noch etwas machen?«
»Setz dich.«
Zen Ramka zögerte einen Moment, bevor sie zum Sessel neben Jhe Newin ging und sich darin niederließ. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass der ältere Mann eines seiner Schwerter in der Hand hielt und es polierte. Und nicht Weißer Habicht, sondern ausgerechnet Schwarzer Falke! Der Griff mit dem Obsidian am Knauf war unverkennbar und auch die Klinge war dunkler als die des anderen Herzstücks. Sie hatte Schwarzer Falke noch nie gezogen gesehen. Bedeutete es irgendwas, dass er ihn gerade jetzt polierte? Wollte er irgendwo hingehen? Wofür waren dann die Briefe gewesen?
Als würde Jhe Newin nichts Besonderes an seinen Handlungen erkennen, legte er das Stofftuch weg und steckte Schwarzer Falke zurück in die Scheide, bevor er sich ihr zuwandte. »Du weißt doch so vieles.«
Zen Ramka behielt ihre ausdruckslose Maske auf. Was kommt jetzt?
»Weißt du auch, warum Rin Verran aus seiner Gilde verstoßen wurde?«
Sie schüttelte den Kopf. »Angeblich hat er seinem Bruder die Verlobte streitig gemacht und dann sind die beiden durchgebrannt.«
Jhe Newins Augenbrauen zogen sich zusammen. »Mich interessieren keine Gerüchte. Ich will Fakten. Gibt es die?«
Zen Ramka fühlte, wie ein kalter Schweißtropfen sich auf ihrer Stirn bildete und langsam auf ihre Augenbraue zu floss. »Nicht, dass ich wüsste.« Sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Jhe Newin sich häufig nach Rin Verran erkundigte, aber dass er so dringend etwas über ihn wissen wollte... Ihr war das unheimlich.
»Er ist so verdorben wie sein Vater«, hörte sie ihn murmeln und tat so, als hätte sie nichts gehört.
Ich kann ihm nicht von den anderen Gerüchten erzählen, dachte sie. Er würde vollkommen durchdrehen. Vielleicht hat er Schwarzer Falke auch poliert, um... Nein. Nein, das würde er bestimmt nicht tun. Er wollte ihn als Schüler haben und ist dann auch noch zur Zatos-Meisterschaft aufgebrochen, um zu sehen, wie er sich schlägt. Das erste Mal überhaupt, seit ich für ihn arbeite. Auch wenn er es nicht zugeben möchte, dieser Junge, dieser herangewachsene Mann bedeutet ihm etwas.
»Sag mir Bescheid, wenn die Gilden geantwortet haben«, sagte Jhe Newin. »Oder wenn sie irgendwas tun ohne zu antworten.«
Zen Ramka nahm das als Signal für sie, zu gehen, stand auf und verbeugte sich leicht in seine Richtung. Sobald die Tür hinter ihr verschlossen war, hörte sie, wie im Zimmer etwas umgestoßen wurde. Bei dem Geräusch zuckte sie kurz zusammen, fasste sich dann aber schnell und eilte den Flur entlang zur Treppe. Sie war gerade an der letzten Tür vorbei, als diese sich öffnete und ein schmaler Lichtstrahl auf den Boden vor ihr fiel. Das freundliche Gesicht von Zha Denja strahlte ihr mit einem Lächeln entgegen. In der Hand hielt sie ihren Fächer Windspiel.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...