Nachdem Rin Verran das Siegel gebrochen hatte, wusste er sofort, dass es ein anderer Absender sein musste. Die Schrift war vollkommen anders. Eher eckig und sie wirkte an einigen Stellen fast schon aggressiv. Als er den Namen sah, mit dem der Brief unterschrieben worden war, sank seine Stimmung auf einen neuen Tiefpunkt. Seine Finger verkrampften sich. Dass ausgerechnet Meister Jhe ihm schreiben würde...
›Rin Verran‹, las er.
›Ich bin maßlos von dir enttäuscht! Hast du alles vergessen, was ich dir als dein Meister beigebracht habe? Nur auf Umwegen habe ich überhaupt davon erfahren, wo du dich zurzeit aufhältst. Dass ausgerechnet du dich freiwillig gemeldet hast, um den Forellen-Pavillon zu erobern, ist unverzeihlich! Ist es dir nicht genug, dass Ghan Shedor befohlen hat, deine Familie zu töten? Wann wirst du deine Augen öffnen und sehen, welchem Scheusal du dienst!
Wahrscheinlich wird dieser Brief dich ohnehin zu spät erreichen. Wie viele deiner Kameraden und Freunde im Forellen-Pavillon hast du getötet? Du bist zu einem Mörder geworden! So jemand darf sich nicht mein Schüler nennen. Wenn wir uns das nächste Mal sehen – und glaube mir, das wird passieren –, werde ich keine Gnade walten lassen! Ich werde dich töten, auch wenn es gegen den Kodex verstößt. Die Welt wird es besser ohne dich haben. Und wenn dir auch nur ein kleines Bisschen Verstand geblieben bist, wirst du Ghan Shedor töten, bevor du freiwillig zu mir kommst, um dein Schicksal zu empfangen. Die Gämsen-Pagode wird das letzte sein, was du siehst, bevor du deine Augen für immer schließt. Das verspreche ich dir.
Meister Jhe Newin.‹
Rin Verran ließ den Brief sinken und zerknüllte ihn mit einer Hand, bevor er ihn in die Feuerschale warf, die in der Mitte des Zeltes aufgestellt war. Sein Blick richtete sich auf den Jungen, der ihn immer noch aufgeregt anschaute.
»Weiß noch jemand von dieser Nachricht?«, fragte er streng.
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe sie Euch sofort gebracht!«
»Das hast du gut gemacht.« Wenn jemand wüsste, dass ich Briefe von meinem Meister bekomme, in denen er von mir fordert, Ghan Shedor umzubringen, würde ich in größte Schwierigkeiten geraten. Was ihn vielleicht sogar noch mehr besorgte, war hingegen die Todesdrohung, die Meister Jhe gegen ihn ausgesprochen hatte. Er hatte ihn bei der Kampf-Prüfung zwar verletzen können und seine Kampftechnik hatte sich in den letzten Jahren auch verbessert, aber da war es nicht um Leben und Tod gegangen. Gegen einen Meister aus der Gämsen-Pagode, der zudem auch noch aus der Jhe-Gilde stammte, hatte er keine Chance. Insgeheim hoffte er, dass Ghan Idos' Angriff auf die Val-Gilde erfolgreich war. So würde er Meister Jhe wenigstens nicht mehr begegnen können und müsste nicht durchgängig um sein Leben bangen. Andererseits war es unwahrscheinlich, dass überhaupt jemand ihn besiegen, geschweige denn töten konnte. Rin Verran massierte sich die Schläfen. Warum gibt es so viel Tod um mich herum? Jetzt wünsche ich mir schon, dass jemand stirbt. Zu was für einem Monster bin ich nur geworden?
»Herr Rin?«
Er sah auf und bemerkte, dass der Junge immer noch im Zelt stand. Irgendwas an seinem Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er ihn schonmal gesehen hatte.
»Wie heißt du?«, fragte Rin Verran mit einem Seufzen.
»Sun Shimei«, antwortete der Junge und strahlte.
Der Name sagte ihm nichts und von einer Sun-Gilde hatte er noch nie gehört. Wahrscheinlich stammte er aus einer der Arbeiterfamilien in den Städten und Dörfern des Territoriums der Ghan-Gilde und hatte sich den Truppen als Helfer angeschlossen. Es wurden immer Leute gebraucht, die die Wagen mit den Nahrungsvorräten lenkten, die Pferde und anderen Tiere versorgten, die fürs Schlachten mitgenommen worden waren, und den höherrangigen Erzwächtern als Diener zur Seite standen. Seit Zha Elto nicht mehr zurückgekehrt war, hatte Rin Verran keinen Diener mehr angenommen. Sie alle waren stets darauf bedacht, ihm so gut wie möglich zu gefallen und schmeichelten ihm mit Worten, von denen die Hälfte erlogen war. Außerdem brauchte er keinen Diener. Sun Shimei erinnerte ihn über alle Maßen an Zha Elto, nur dass er jünger war. Noch nicht mal alt genug, um in die Gämsen-Pagode zu gehen, was angesichts des Krieges in nächster Zeit sowieso unmöglich sein würde. Davon abgesehen, dass seine Familie es sich wahrscheinlich ohnehin nicht leisten könnte, ihn dorthin zu schicken.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...