11 - Route 66

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"Get my kicks on Route 66." Das Lied will meinen Kopf nicht verlassen. Seit wir auf dieser Strasse fahren, läuft es in Endlosschlaufe rauf und runter. Ich geniesse den kurzen Moment der Zärtlichkeit. Kates Kopf in meiner Halsbeuge, nah bei meinem Herzen und gleichzeitig mittendrin. Mein Arm ruht auf ihrem Rücken, ich spüre das sanfte Auf und Ab ihrer Atemzüge.

Ich wünsche mir, ich könnte die Zeit anhalten. Das müsste für jemanden wie mich, einen Zeitreisenden, eigentlich möglich sein. Dieses Gadget müsste ich doch laden können, Credits habe ich bestimmt genug gesammelt. Leider bin ich nicht in einem Computerspiel, sondern im richtigen Leben.

Im richtigen Leben! Hmm, wie das schon klingt, ist es falsch. Was ist das richtige Leben? Ich bin hier. Aber bin ich das? Was ist "Ich"? Ich bin tot, von einer gewaltigen Explosion weggeschleudert, verkohltes Fleisch auf grüner Wiese, wie beim Barbecue. Geschichte. Ich bin Professor für Geschichte und habe selbst so wenig Ahnung davon.

Ich lerne. Auf der wohl geschichtsträchtigsten Strasse der USA. Ich erfahre sie. Wissen ist Erfahrung. Was nützt einem die ganze Theorie, die man an den Schulen lehrt, wenn die Welt danach nicht so ist, wie man sie zu kennen glaubt? Meine Kicks, die ich hier erhalte, sind so echt, wie es das bisherige Leben nie hat sein können.

Mein Arm bewegt sich. Kate hebt ihren Kopf. Den Blick ihrer dunklen Augen kann ich nicht deuten, aber ich liebe ihn. Genau so möchte ich fortan angeblickt werden, immer. Es ist diese Mischung aus Vertrauen, Dankbarkeit und Glück, das behagliche Schnurren zweier dunkler Augen.

"Na? Gut geschlafen?"

Sie lächelt, ich schmelze. "Ja. Danke, das hat gut getan." Dabei führt sie meinen Arm zärtlich von sich weg. So weit sind wir wohl noch nicht. "Wo sind wir?" Kate dreht ihren Kopf zum Fenster.

"Irgendwo kurz vor Springfield. Wir werden demnächst einen Frühstückshalt einlegen, hat Charly gesagt."

Kate seufzt erfreut. "Ahh, Kaffee. Her damit!" Sie wippt auf und ab, als hätte ihr Footballteam gerade einen Score erzielt.

Ich lache über ihren Scherz und freue mich gleichzeitig auch auf die Aussicht eines Frühstücks. "Gerade jetzt bist du nicht die rationale Wissenschaftlerin."

"Wenn wir schlafen, sind wir Menschen alle gleich, Peter. Wir haben weit mehr gemeinsam, als wir im Allgemeinen glauben."

Der Bus kommt sanft zum Stillstand. Die Türe zischt auf, Menschen treten in den bereits angenehm warmen Morgen. Draussen steht ein silbriges Diner mit roter Schrift, unweit des gelben Wagens. Eine Stunde Aufenthalt. Wir schlendern zum Diner. Kate streckt sich, legt ihre Hände im Stehen vor sich auf die Erde. Mein Rücken erlaubt mir gerade die halbe Bewegung. Hätte ich doch bloss mehr Sport gemacht. So aber baumeln meine Arme wie bei einem Hampelmann nutzlos vor meinen gebeugten Knien. Ich komme mir dämlich vor.

Die Schwingtüren des Diners erinnern an einen Westernsaloon. Drinnen treffen wir auf die übliche Einrichtung eines Diners, viel Chrom und glitzernder Plastik. Wir setzen uns auf die weichen Polster, das typische Knistern von Plastik klingt in meinen Ohren etwas fremd. Es riecht nach Kaffee, gebratenem Speck mit Toast und Pancakes. Mein Magen knurrt, schon schwirrt eine junge Blondine heran, die Haare kurz geschnitten, ein Haarband mit Blumen und eine dazu passende Schürze tragend. In ihrer linken Hand hält sie einen bauchigen Krug aus Glas mit einer braunen Flüssigkeit drin. Ohne zu fragen stellt sie zwei flache Tassen vor uns auf den Tisch und giesst Kaffee ein.

Ich will mich bedanken, schaue sie an und verschütte den Kaffee. Sue.

"Na hoppla, da ist aber jemand noch nicht ganz wach!" Sie lacht über ihren eigenen Scherz, Kate prustet ebenfalls los.

Der Bus nach IrgendwannWo Geschichten leben. Entdecke jetzt