27 - Charly

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Ich stehe unter der Rainbow Bridge. Um mich herum sehe ich die Wüste, kann sie aber nicht spüren. Es ist mehr wie eine Szene aus einem alten Stummfilm-Western, ohne Gerüche, ohne Gefühle und ohne Geräusche, aber in Farbe. Ein friedliches und vollkommenes Bild im Einklang mit der Natur.

Neben dem Steinbogen brennt das Feuer, welches wir 2022 zurückgelassen haben. Der alte Navajo aber ist weg. Mir fröstelt, weshalb ich auf das Feuer zugehe und mich setze. Was ist hier los? Wo sind die Tiere, wo ist der Alte?

Neben mir taucht ein kleiner Junge auf, offenbar etwa zehn oder elf Jahre alt. Er steht bloss da, in Navajo-Kleidern, mit einer Puppe in der Hand und glotzt mich an.

"Wer bist du?" Dumme Frage, der wird ja kaum Englisch sprechen. Aber etwas musste ich sagen, denn die Situation kam mir dämlich vor.

"Bist du Peter?" Er spricht Englisch.

Na klar! Alle Welt kennt mich und das jederzeit. Nur ich verstehe einmal mehr nichts. Also bejahe ich seine Frage. Der Junge setzt sich neben mich.

"Hast du Kate heimgebracht?"

"Woher weisst du?"

"Aber Peter, wir sassen zusammen an diesem Feuer, erinnerst du dich nicht?"

Der alte Navajo! Ich muss im falschen Jahr gelandet sein. "Wieso bist du jung?"

"Ich liebe dieses Alter, du nicht auch? Als Kinder verstehen wir besser und fragen neugieriger. Du bist im Vakuum, Peter. Hier gibt es keine Zeit. Du hast Fragen, und Charly meinte, ich soll sie dir beantworten. Also hast du Kate nun heimgebracht?"

"Ja, das habe ich. Sie ist zurück in ihrer Zeit, ohne mich."

"Das ist gut. Nun stelle mir deine Fragen, Peter."

"Du kennst Charly?"

"Jeder kennt Charly, du musst nur genau hinsehen. Hast du keine besseren Fragen?"

Den würde ich in der Schule zerreissen, den Typen, er nervt mit seiner Überheblichkeit. Wieso redet der nicht wie ein Zehnjähriger? Weil die Zeit keine Rolle spielt, schon klar. Ich werde mich anstrengen müssen, mit ihm mitzuhalten.

"Robert hat erzählt, Charly habe ihn gerettet. Wieso tut er das immer wieder?"

"Was meinst du?"

"Na, Leute retten. Mich, Kate, Robert. Immer wieder hat er uns gerettet und ich verstehe nicht, weshalb."

"Ihm liegt viel an euch. Er mag euch. Ihr seid rein im Herzen. Bereit in der weissen Welt zu leben."

"Wer oder was ist er?"

"Ich sehe, du lernst dazu. Was hast du sonst noch gelernt, Peter Bauer?"

Eine Menge, da wüsste ich gar nicht, wo beginnen. "Ich kann das nicht in Worte fassen. Es gibt keine Worte dafür, nicht in meiner Sprache."

"Dann versuche es zu fühlen, ich werde dich verstehen."

Mit geschlossenen Augen denke ich an die vergangene Zeit zurück. Die Bilder, die Gerüche, Kate und die Gefühle. Meine Verwirrung taucht auf, als ich zukünftige Welten und Parallelwelten gesehen habe. Verstehen kann ich es noch nicht, aber die Gefühle sind echt, sie sind ein Teil von mir geworden.

"Fühlst du es nun? Alles fügt sich zum Ganzen. Alle Lebewesen sind sich verwandt."

"Ja, das tue ich." Mit einem Mal ist mir klar, was das Leben ist. Mit einem Mal verstehe ich, warum ich 'Ich'  bin und weshalb die Welt um mich herum nicht wichtig ist.

"Ich bin nur ein Teil davon."

"Ja und nein, Peter. Du bist ein Teil, das ist richtig. Wovon du aber ein Teil sein willst, bestimmst du."

"Und je nachdem, wie ich mich entscheide, lande ich in dieser oder jener parallelen Welt, richtig?"

"Du kommst der Sache näher, ja. Nur ganz so einfach ist es nicht. Deine Entscheidungen sind manchmal zufällig, dienen einem grösseren Ganzen, das du nicht beeinflussen kannst."

"Und da kommt Charly ins Spiel, richtig?"

"Er hat viele Namen."

"Wenn ich an die Geschichte der Menschheit zurückdenke, seit wann gibt es die Zeitreisen?"

"Du denkst noch immer limitiert, kannst das Ganze noch nicht wahrnehmen." Der Junge lacht und es scheint, als amüsiere er sich über mich. "Woran denkst du konkret?"

"Die Pyramiden, zum Beispiel. Die seltsamen Bauten der Maya, das vergangene Reich der Azteken, das sagenhafte Atlantis - ich denke an viele Dinge, welche man als Mensch nur schwer erklären kann."

"Mit deinem Wissen sollte es einfacher werden, Peter. Deine Vorfahren, welche diesen Kontinent hier für sich entdeckt haben, hatten nicht dein Wissen. Sie trafen auf fremd wirkende Kulturen und zerstörten diese, anstatt sie zu studieren. Sie glaubten, im Recht zu sein. Wertvolles Wissen ging verloren."

Seine Worte treffen mich hart. "Ja, ich habe gesehen, wohin diese Haltung führen kann. Aber ich kann es nicht ungeschehen machen."

"Würde sich dadurch etwas ändern?"

"Wahrscheinlich nicht. Es gäbe eine parallele Welt mehr."

"Was hast du gelernt?" Er wiederholt seine Frage, was bedeutet, dass ich sie ihm nicht beantworten konnte. Lange denke ich nach, dann sehe ich Kate unter dem Steinbogen, sie lächelt mir zu. Ich spreche langsam, blicke ins Feuer.

"Ich habe gelernt zu leben und zu lieben, Charly."

Auf einmal ist er wieder der Alte, der hustend kichert und an seiner Pfeife zieht. Er murmelt mir etwas zu, in Navajo, ich verstehe kein Wort und doch weiss ich, was er will. Langsam ziehe ich den Traveller von meinem Handgelenk und lege ihn in seine Hand. Er nickt bloss, deutet mit seiner anderen Hand zum Nonnezoshi. Ich nicke zurück und schreite einmal mehr unter dem gewaltigen Fels-Bogen durch.

Der Bus nach IrgendwannWhere stories live. Discover now