„Warum gehst du mit mir mit?"

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Wenn jemand Andreas heute Morgen erzählt hätte, dass Chrissi ihn für ein Mädchen mit ein bisschen zu viel Babyspeck stehen lässt, hätte er vermutlich laut gelacht. Jetzt zwickt er die Augen zusammen, und versucht verzweifelt das Bild vor sich zu ändern. Gerade eben stand Chrissi noch bei ihm, jetzt ist sie bei mir und zupft ein Blatt aus meinen Haaren.

„Was machst du denn da hinter der Mauer?", fragt sie. Wäre ihr Tonfall ein andere, könnten man meinen, sie will mich fürs Spannen ausschimpfen. Aber sie redet eher so, als hätte sie mich nach langer Suche beim Versteckspielen gefunden.

„Ich wollte nicht stören.", flüsterte ich und werfe einen vielsagenden Blick zu Andreas hin.

Ein gewaltiges Verstehen flimmert über Chrissis Züge. Dann lächelt sie.

„Aber du störst überhaupt nicht. Elly."

„Doch sie stört.", ruft Andreas von hinten.

So ein Blödmann. Ein bisschen Freundlichkeit würde ihm nicht schaden. Chrissi seufzt. Vermutlich denkt sie genau dasselbe.

„Tut mir leid.", flüstert sie, dreht sich um und geht zurück zu Andreas. Eine eiskalte Abfuhr. Chrissi hätte mich einfach übersehen sollen, das hätte ich leichter ausgehalten.

Ich will nicht weinen, nicht maßlos enttäuscht davonstürzen, niemanden zeigen, wie verletzt ich bin. Aber ich tue alles davon. Und plötzlich bin ich selbst das weiße Fräulein, das durch die dunklen Kammern der Burg schwebt und ihr Unglück bejammert. Obwohl ich es doch weiß. Alles weiß. Von Anfang an habe ich mir die Wirklichkeit immer wieder bewusst gemacht. Chrissi ist ein weit entfernter Stern. Sie hat einen einzelnen, miesgelaunten Planeten in ihrer Umlaufbahn behalten. Trotzdem schicke ich meine Wünsche in den Nachthimmel, in der Hoffnung, Chrissi fällt als Sternschuppe zur Erde.

Nach den Tränen tröste ich mich mit Tagträumen. Ich sitze auf einem Felsen, dort wo ein dünner Trampelpfad endet, der um die halbe Burg herumführt. Über mir schwanken die Blätter eines Ahornbaumes. Ihr Rascheln klingt wie ein Schlaflied. Als Käfer würde ich auf den großen Blättern sitzen und mit dem Wind wippen. Ein kurzes Insektenleben im Sommer muss wie das Paradies sein. Ohne Gedanken. Ohne Sorgen. Einfach nur da sein und alles spüren.

Als Käfer würde ich dem blöden Andreas in den Zeh beißen. Ganz egal, ob er mich dann erschlägt.

Die Uhr auf meinem Handy meckert. Es ist Zeit den Weg zum Parkplatz zu finden. Zurück in die schnöde Wirklichkeit. Mit einem Seufzen, das allen Gespenstern Konkurrenz macht, rutsche ich vom Felsen herunter. Sag dem versteckten Käfer im Blätterdach auf Wiedersehen. Und den Ameisen, die über den Stein wuseln. So emsig und fleißig. Ich möchte kein Ameisenleben im Sommer führen.

Die Fähigkeit mich direkt ins Camp zu beamen, würde mir einiges ersparen. Chrissis Anblick, die Andreas Nähe sucht und ihm diesen widerlich verliebten Blick schenkt. Und die Liebeswolke, die um Lara und Marius herumwabert und die ganze letzte Reihe des Buses verpestet. Da ich mit Superkräften nur spärlich ausgestattet bin, trotte ich aus dem Schatten der Burg auf den grellen Vorplatz. Das Gewimmel von zuvor hat sich gelichtet. Die meisten Besucher wandern zum Anfang des Weges, der sich den Berg hinab zum Parkplatz schlängelt. Dort warten zwei verdächtige Personen, in Khakishorts und weißen T-Shirts. Ein honigblonder Zopf glitzert wie Gold in der Sonne. Ein braunhaariger Mann steht direkt daneben. Na super.

Es ist den Versuch wert, stumm an den Beiden vorbeizuschleichen, den Kopf gesenkt, frei nach dem Motto: „wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich auch nicht."

„Na. Endlich. Elly. Du bist die letzte meiner Gruppe. Alle anderen sind schon auf dem Weg nach unten."

Und wieder ignoriert Chrissi mich nicht so, wie sie es sollte. Das genaue Gegenteil von heute Morgen.

Glühwürmchen (girlxgirl)Donde viven las historias. Descúbrelo ahora