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POV Leonie

Der Wind weht durch meine Haare, als ich von der Arbeit mit dem Fahrrad nach Hause fahre. Der Tag hat sich gezogen und das wird sich sicher nicht durch meine anstehende Schicht im Moxx ändern. Ich wünschte, ich müsste nicht noch nebenbei arbeiten, doch meine Wohnung ist dafür einfach zu teuer. Ich fahre durch den Park und ausnahmsweise biege ich nicht in Richtung Zentrum ab, sondern fahre weiter bis zum Ende der Allee. Wir haben einen schönen Stadtsee, der mir als erstes aufgefallen ist, als wir hergezogen sind. Mittlerweile wohnen wir seit drei Jahren hier und seit wenigen Monaten habe ich auch meine eigene Wohnung. Heute stelle ich mein Rad jedoch da ab, wo ich es die letzten Jahre immer abgestellt habe. Ich laufe durch unseren Vorgarten und höre Luna schon bellen, bevor ich meinen Schlüssel überhaupt ins Schloss stecken kann. Auf dem Weg in die Küche kraule ich der alten Hündin das Fell und rufe in den Wohnbereich: „Ich bin zuhause!"

Wie so oft kommt keine Antwort, weshalb ich einfach in die Küche gehe und dort meine Mutter am Herd vorfinde. Sie macht Curry und lächelt, als sie mich sieht. „Du bist aber früh, gut dass ich mehr gemacht habe", sagt sie, obwohl sie eh immer zu viel kocht. Mein Vater arbeitet bis zum Abendessen und meine Schwester isst nie so viel. Ich setze mich an den Essenstisch und schenke mir ein bisschen Wasser ein, während meine Mutter anfängt, mich über die Arbeit auszufragen. Ich erzähle ihr von einigen meiner Patienten und sie tut so als könnte sie Multitasking und gleichzeitig zuhören und kochen. Meine Mutter ist selbst meistens zuhause, weil sie Schriftstellerin ist und zum Arbeiten nur ihre ruhige Ecke und ihren Laptop braucht. Ich weiß nicht, ob sie je etwas anderes gemacht hätte, wenn meine Schwester nicht gewesen wäre. Meine Mutter wirkt immer so, als würde sie alles, was sie tut, mit voller Überzeugung machen. Ich beneide sie oft dafür, anderen Menschen Sicherheit zu geben und so selbstsicher zu sein. Der Job in der Bar, den ich seit einigen Wochen habe, hilft mir dabei, etwas weniger darauf zu geben, was andere sagen. Manchmal fällt es mir jedoch umso schwerer, die Fassade der coolen Barkeeperin aufrecht zu erhalten. Erst letzten Samstag hat mich einer der Kunden wieder völlig unangebracht angemacht und es fiel mir schwer, nicht auszuflippen. Ich habe meine Gefühle nicht unter Kontrolle gehabt und der Tag wäre nahezu völlig im Arsch gewesen.

Pünktlich auf die Minute höre ich die Tür aufgehen, als meine Mutter das Essen auf den Tisch stellt. Man hört, wie ein Rucksack in die Ecke des Flurs geworfen wird und kurz später kommt meine Schwester in die Küche. Sie grinst, als sie mich sieht und läuft um den Tisch zu mir. Sie umarmt mich und wie immer lege ich ihre Hand an mein Herz, damit sie es schlagen fühlt. Seit Zoey vier ist, begrüßen wir uns auf diese Weise, weil es ihr damals immer geholfen hat, wenn sie sich allein gefühlt hat. Irgendwann wurde sie selbstbewusster und lernte mit ihrer Einschränkung zu leben, doch die Begrüßung behielten wir bei. „Wie läuft die Schule?", frage ich sie mithilfe meiner Hände, weil sie meine Lippen nicht sehen kann. Sie setzt sich gegenüber von mir neben meiner Mutter hin und zuckt die Achseln. „Wie immer", meint sie und nimmt sich etwas zu essen. Obwohl meine Schwester taub ist, kann sie sehr gut reden und den meisten Menschen fällt lange gar nicht auf, dass sie sie nicht hören kann. Wir reden häufig ganz ohne Gebärdensprache, weil sie gut von Lippen ablesen kann und es lieber mag, wie alle anderen zu kommunizieren. Meine Mutter fängt an, uns von ihrem Lesezirkel zu erzählen und wir tun so, als wäre das spannender als es eigentlich ist. Allerdings schafft es meine Mutter sogar, diese langweilige Mitvierziger Runde spannend klingen zu lassen. Als sie von einer Frau namens Birgit erzählt, die ihre eigenen Katzen züchtet, zeigt mir Zoey mit einem kaum sichtbaren Zeichen, wie seltsam einige Freundinnen unserer Mutter sind und ich muss grinsen.

Ihre schnelle Handbewegung erinnert mich an die Versuche des Mädchens, mich mit Gebärdensprache zu beeindrucken. Ich muss an ihre blauen Augen denken und erwische mich selbst dabei, wie ich etwas lächeln muss. Ich versuche, den Gedanken an sie schnell zu verdrängen und widme mich meinem Essen. Sie ist schon überzeugt genug von sich selbst, da muss ich nicht auch noch an ihr hübsches Gesicht denken. Wir essen fertig und wollen meiner Mutter dann beim Abwasch helfen, doch sie schickt uns raus. „Zeig deiner Schwester lieber, was ich im Garten verändert habe", sagt sie zu meiner Schwester, die mich darauf gleich mit sich nach draußen zieht. Sie führt mich durch den Garten und zeigt mir Blumen, bei denen ich nicht wirklich wüsste, ob sie neu sind.

„Ist irgendwas spannendes passiert?", fragt Zoey mich, als wir uns auf unsere kleine Bank setzen. Ich kratze mich am Hinterkopf und wieder muss ich an Samstagabend denken. Vielleicht hilft es mir, darüber zu reden, um es besser einzuordnen. Mit meinen Händen sage ich meiner Schwester, dass ich jemanden kennengelernt habe. Sofort grinst Zoey und will, dass ich mehr erzähle. Ich seufze und spiele mit meinen Fingern herum. Wie immer, wenn ich das mache, greift Zoey in meine Hände und gibt mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich es lassen soll. „Sorry", meine ich, weil ich immer noch oft vergesse, dass es sie verwirrt, wenn ich das tue. „Sie war in der Bar und hat offensichtlich mit mir geflirtet. Sie sah auch echt gut aus, aber ich glaube sie macht das häufiger", erkläre ich ihr, was ich denke und sie nickt verständnisvoll. „Siehst du sie wieder?", fragt sie und ich tue so, als hätte ich mir diese Frage nicht schon zu häufig gestellt. Also zucke ich die Achseln und antworte: „Ich weiß nicht mal ihren Namen. Die einzige Möglichkeit ist, dass sie wieder ins Moxx kommt." Ich bin froh, dass meine Schwester nicht hören kann, wie meine Tonlage sich bei meinen Worten ändert. Leider scheint sie jedoch aus meinem Gesicht trotzdem lesen können, sodass sie mein Knie tätschelt und meint: „Sie kommt bestimmt."

 Ich nicke halbherzig und bin mir da nicht so sicher. Wie so oft, wenn es um Frauen geht, die ich anziehend finde, soll ich Recht behalten.


Just one step away from foreverTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang