Kapitel 25

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Als ich am Montagmorgen zur Therapie gehe, bin ich nicht so entspannt wie sonst.

Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ein Teil von mir sauer auf Leo ist. Sie hat mir aus irgendeinem Grund verheimlicht, dass sie eine Freundin hat und mich am Wochenende mit dem Telefonat versetzt. Sie scheint letzteres vergessen zu haben, da sie relativ befreit von einem Film erzählt, den sie gesehen hat. Gestern habe ich einen Teil meines Beines gespürt, den ich vorher nicht spüren konnte, doch ich erzähle es ihr nicht. Ich bin nervös, weil ich später wieder zum Gericht muss, doch auch das erzähle ich nicht. Ich muss es abstellen, ihr einfach so zu vertrauen. Irgendwie schaffe ich es, zu überspielen, dass ich mich nicht wohl fühle und bin erleichtert, als die Stunde vorbei ist.

Jedoch hält Leo mich an der Tür auf und kniet sich so wie sonst vor mich. Sie sieht mir in die Augen und wirkt leicht nervös, als sie meint: „Ich wollte dich noch einladen." Ich runzele leicht die Stirn und sie fügt hinzu: „Ich habe morgen Geburtstag und würde mich freuen, wenn du kommen würdest. Wir feiern bei meinen Eltern und du brauchst mir nichts schenken." Meine Augen weiten sich leicht, mir war nicht klar, dass sie morgen Geburtstag hat. Gleichzeitig frage ich mich, warum ich überhaupt darüber nachdenke. „Ich kann morgen leider nicht", murmele ich und sehe noch ihr verdutztes Gesicht, bevor ich mich an ihr vorbeischiebe.

....

„Es tut mir so leid", sagt meine Mutter und ich höre, wie erbost sie innerlich ist. Meine Mutter ist keine Person, die besonders schnell gereizt ist, doch gerade würde sie wohl eindeutig jeden zerreißen, der ihr zu nahe kommt. Ich fühle beklemmende Leere in meinem Körper und kann keine klaren Gedanken fassen. Das Gericht wird mir kein Geld geben und ich werde die Operation nicht bekommen können. Ich hatte nie wirklich an die Operation geglaubt, doch es trifft mich, dass ich nichts als Entschädigung für den Unfall bekomme. „Ich muss wieder an die Arbeit, aber ich kann dich zu Meg bringen, wenn du willst", sagt meine Mutter, doch ich schüttele den Kopf. „Kannst du mich zum Friedhof bringen?"

...

Als ich alleine durch das Laub fahre, werden meine Gedanken immer lauter. Ich werde für immer im Rollstuhl sitzen. Ich werde meine Beine nie wieder bekommen. Die Reichen bekommen immer was sie wollen und werden nie bestraft für ihre Fehler. Mein Herz tut unglaublich weh und ich kann nicht verhindern, dass Tränen über meine Wangen rinnen. Als ich zu dem Teil des Friedhofes komme, auf dem meine Oma beerdigt ist, wird mir eine weitere Tatsache bewusst. Ich kann nicht mehr zu ihrem Grab, weil es auf einer Anhöhe ist, die man nur durch Treppen erreicht. Mein Herz fühlt sich an als würde es zerreißen und vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder die Scheinwerfer des Autos auf mich zu rasen. Meine Muskeln scheinen all ihre Kraft zu verlieren und ich lasse mich von meinem Rollstuhl ins Gras sinken. Ich sitze auf dem Friedhof am Fuß einer langen Treppe und die Tränen fließe wie Wasserfälle über meine Wangen. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, bis plötzlich eine Stimme meinen Namen sagt.

Ich erkenne sie sofort, doch ich möchte sie nicht hören. Warum muss sie jetzt hier sein? Ich sehe nicht auf, doch im nächsten Moment spüre ich warme Arme um meine Schultern. Ihr Duft umhüllt mich als sie mich fest in den Arm nimmt. So sehr ich mich auch dagegen wehren möchte, letztendlich lasse ich meine Mauer fallen und schluchze in ihre Schulter. Sie streicht über meinen Hinterkopf und flüstert: „Schon gut." Auch wenn ich es nicht zugeben möchte, hilft es mir, nicht allein zu sein. Sie hilft mir, mich etwas zu beruhigen und löst sich schließlich wieder von mir.

„Was ist passiert?", fragt sie vorsichtig und kniet sich vor mich. Ich seufze und schaue auf den Boden: „Das Gericht hat von einer Strafe für die Verursacher meines Unfalles abgesehen." Leo runzelt verwirrt die Stirn: „Wieso das denn?" Unfähig wirklich darüber zu reden, zucke ich nur mit den Achseln. Sie schluckt und drückt meine Hand mit ihrer: „Das tut mir sehr leid." Ich nicke dankbar und schaue zum ersten Mal in ihre Augen seit sie gekommen ist. In ihrem Blick sehe ich ehrliche Sorge und viel zu viel Wärme. „Warum bist du hier?", frage ich frei heraus, was ich denke und ihr Ausdruck verändert sich. Sie kratzt sich im Nacken, wie immer, wenn sie nervös ist und meint: „Ich musste nachdenken." Ich beschließe, nicht weiter nach zu fragen, da es mich wohl nichts angeht. Letztendlich sind wir allerhöchstens Freunde und ich muss aufhören, mich so sehr für sie zu interessieren. Vielleicht habe ich auch gar kein Recht, sauer über ihr Verhalten zu sein. Nach heute Nachmittag ist die ganze Geschichte vom Wochenende nicht mehr ansatzweise so tragisch. Dann hat sie mir eben nicht von ihrer Freundin erzählt, ich habe ja auch nicht gefragt.

Leos Blick streift über die Gräber hinter mir und sie wirkt nachdenklich. „Ist das Grab deiner Oma hier?", fragt sie und ich nicke stumm. Ihr Blick fällt auf die Treppen hinter mir und sie scheint, das Problem zu erkennen. Sie schaut sich um und steht dann kurzerhand auf, um zu einer Wiese in der Nähe zu laufen. Als sie zurückkommt, hat sie einen kleinen Strauß mit Wildblumen in der Hand. Sie reicht ihn mir, sieht mir in die Augen und haucht: „Wehr dich einfach nicht, okay?" Dann greift sie mit einem Arm unter meine Beine und legt einen meiner Arme um ihre Schultern. Ich halte mich an ihr fest und sie trägt mich die Treppe hoch. Ich bin mir sicher, dass ich mich bei jedem anderen Menschen hilflos und komisch gefühlt hätte. Mit ihr jedoch fühlt es sich seltsam normal an und ich spüre keine Scham. Ich zeige ihr das Grab meiner Oma und sie setzt mich behutsam davor im Gras ab. Sie kniet sich hinter mich, um zu verhindern, dass ich hinfalle und hilft mir, die Blumen auf den Grabstein zu legen. Wir sitzen einige Zeit nur so da und ich denke an meine Oma und wie schön es wäre, mit ihr zu reden.

„Es ist ein sehr schönes Grab", flüstert Leo nah an meinem Ohr und ich muss leicht lächeln.


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