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An diesem Nachmittag muss ich zu einer Untersuchung und werde dafür von meiner Mutter durchs Gebäude gefahren. Sie bleibt an der Cafeteria stehen und beschließt, uns etwas zu holen. Wir haben noch etwas Zeit vor meiner Untersuchung, weshalb wir uns einen Tisch suchen. Meine Mutter besteht darauf, mir auf einen der Stühle zu helfen und ich mache einfach, was sie möchte. Ich habe keine Energie, um mit irgendjemandem zu diskutieren. Den Rollstuhl stellt sie an die Wand und geht dann, um uns etwas zu trinken zu besorgen.

Ich starre auf die Deko, die auf dem Tisch steht und frage mich, wie oft ich hier noch sitzen werde. An meiner Hand ist das Grind schon wieder relativ gut verheilt, genauso wie das in meinem Gesicht. Die schlimmeren Verletzungen sind unter meinen Klamotten, sodass zumindest niemand sehen kann, wie ich zugerichtet bin. Gelangweilt nehme ich mein Handy aus der Hosentasche und gehe auf Instagram. Olli hat eine Story von einem Sonnenuntergang über einem Fluss und ich seufze. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.

„Ich hole uns was, setz dich schon mal hin", sagt eine Stimme und ich schaue sofort auf, weil sie mir bekannt vorkommt. Nur wenige Meter von mir entfernt entdecke ich dunkle Haare, die ich irgendwoher kenne. Als die Person sich umdreht, kommen meine Erinnerungen wieder. Meine schlechten Sprüche und ihre Konter, die so viel besser waren. Ohne ihr dunkles Baroutfit hätte ich sie kaum erkannt. Sie trägt ihre Haare diesmal offen und eine hellere Hose, mit einem schwarzen Nike-Shirt. Ich muss daran denken, wie die Nacht geendet ist und fühle die Leere in mir stärker als zuvor. Bevor ich jedoch wegschauen kann, treffen ihre Augen meine und ich sehe, dass sie mich sofort erkennt. Das Mädchen, mit dem sie gesprochen hat, setzt sich an einen Tisch und sie kommt in meine Richtung. Einen Meter vor mir bleibt sie stehen und verschränkt ihre Arme vor ihrer Brust.

„So sieht man sich wieder", meint sie und ich meine einen leicht genervten Unterton herauszuhören. Ich nicke nur, sage aber nichts und starre stattdessen auf meine Hände. „Warum bist du hier? Ist alles okay?", fragt sie und klingt dabei sogar leicht besorgt. Mein Blick huscht kurz zu dem Rollstuhl, doch er steht weit genug weg. Es geht sie absolut nichts an, was mit mir ist, also meine ich: „Ich besuche nur jemanden." Man hört meiner Stimme an, dass ich keine Lust habe, mich zu unterhalten. Sie merkt es wohl, denn sie nickt und sagt: „Es war auf jeden Fall schön, dich zu sehen." Ich sehe kurz auf und sie schenkt mir ein kleines Lächeln, dass erstaunlich nett aussieht. Sie kennt mich nicht und ich behandele sie scheiße, warum ist sie nett zu mir? In ihren Augen sehe ich einen kleinen Schimmer und er erinnert mich daran, wie sie auf dem Dach gestanden hat. Irgendetwas regt sich in mir und als sie gehen will, greife ich wie von selbst an ihren Arm.

„Warte", sage ich und sie bleibt erstaunt stehen. Ihre Haut ist angenehm warm unter meinen Fingern, doch ich ziehe sie trotzdem schnell wieder weg. „Warum bist du hier?", frage ich sie, um sie in ein Gespräch zu ziehen. Keine Ahnung, warum es so ist, aber sie gibt mir gerade irgendetwas und besser als Langeweile ist es sicherlich. „Ich begleite meine Schwester zu ihren Untersuchungen", sagt sie und zeigt auf das Mädchen am anderen Ende des Raums. Ich will schon weiter nachfragen, als sie jedoch meint: „Setz dich doch zu uns." Mein Blick fällt auf meine Beine und sofort schießt Panik durch meinen Körper. Ich merke, wie ich mich anspanne und schüttele schnell den Kopf. „Lieber nicht", presse ich nur heraus und wie zu erwarten, wird ihr Gesichtsausdruck verdutzt. Ich verziehe leicht das Gesicht und murmele: „Ich meine wir kennen uns gar nicht und außerdem muss ich auf meine Mutter warten." Kurz betrachtet sie mich nachdenklich, doch dann nickt sie nur und ich bin erleichtert, dass sie es akzeptiert. „Kommst du nochmal ins Moxx irgendwann?", fragt sie mich und ein kleiner Teil von mir fühlt sich für einen Moment angenehm bestätigt. Wie sehr hätte ich darauf gestanden, dass sie mich wiedersehen will, wenn alles anders wäre. Meine Masche hat tatsächlich bei ihr gezogen, obwohl sie mich abgewiesen hat. Sie ist genau mein Typ und irgendetwas sagt mir, dass sie vermutlich sogar zu gut für mich wäre. Nur leider werde ich definitiv nie wieder so feiern gehen, wie ich es mal konnte.

Also schüttele ich den Kopf und füge hinzu: „Tut mir leid." In ihren Augen erkenne ich kurz Erstaunen und Verwirrung, doch ich schaue schnell weg und tue so, als würde mich die Speisekarte interessieren. Für eine Sekunde scheint sie zu zögern, doch dann dreht sie mir den Rücken zu und lässt mich alleine. Ich sehe ihr nach und mein Blick trifft den ihrer Schwester. Sie sieht ihr ähnlich, wirkt allerdings um einiges jünger als sie. Ihr Blick ist eindringlich und ihre Augen wirken wachsam. Schnell gehe ich dem Augenkontakt aus dem Weg und schaue wieder auf meine Hände. Ich werde davon abgelenkt, dass meine Mutter zurück kommt und mir einen Kaffee hinstellt. Sie erzählt mir etwas von unseren Verwandten und ich höre ihr halbherzig zu. Gleichzeitig hoffe ich die ganze Zeit, dass wir nicht zu schnell gehen, weil die anderen sonst sehen, dass ich nicht laufen kann. Zum Glück bleiben die beiden nicht lange und ich muss mich zwingen, ihr nicht hinterherzusehen, als sie den Raum verlässt.

Abends als ich im Bett liege, muss ich an ihre Augen denken und würde mich dafür am liebsten selbst schlagen. Ich bin oft von Frauen fasziniert und normalerweise gehe ich dem auch immer nach. Das war auch einer der Gründe, warum mir früh klar war, dass ich Frauen lieber mag als Männer. Noch nie konnte ein Mann mich auf die gleiche Weise faszinieren, wie es Frauen können. Es nervt mich, dass ich dem Flirt diesmal nicht nachgehen kann, weil ich weiß, dass es an mir kratzen wird. Es fällt mir leicht, Mädchen zu vergessen, nachdem ich etwas mit ihnen hatte. Ich bin mir sicher, dass ich kein gesundes Verhältnis zu Bindungen habe, aber es hat mich bisher nie wirklich gestört. Ich habe Spaß mit Frauen und manchmal sehe ich sie auch mehrmals, doch ich habe nie Verpflichtungen und das macht mir das Leben sehr leicht. Meine einzige Verpflichtung in den letzten Jahren war der Sport und ich dachte, dass das noch lange so bleiben würde. All mein Selbstbewusstsein habe ich aus der Tatsache gezogen, dass ich wirklich talentiert war in dem, was ich tat.

Ich habe keine Ahnung, wie ich je wieder leben soll.


Just one step away from foreverOù les histoires vivent. Découvrez maintenant