29. Hannes - erwachen

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„Morgen", begrüßte mich Benny und riss mich aus den Gedanken. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich hier gesessen und in meine Tasse Kaffee gestarrte hatte. Aber der Kaffee war kalt.

Irgendwann am frühen Vormittag, viel Schlaf hatte ich noch nicht, wurde ich vom Ruf der Natur geweckt und schlich auf Zehenspitzen, um Benny nicht zu wecken, ins Bad. Die Sonne schien und erleuchtete dieses in ihrem Licht. Blinzelnd, bis sich meine Augen an das Lichte gewöhnt hatten, tapste ich zum Klo, nur um in meiner Bewegung inne zuhalten. Überall standen halb gefüllte Kartons.

Irritiert trat ich auf den Flur und ins Wohnzimmer. Auch da standen Kartons, die ich gestern nicht wahrgenommen hatte. Mein Weg führte mich in Küche, Arbeitszimmer und zuletzt in das Schlafzimmer. Überall das Gleiche.

Ich schluckte. Er hatte mir noch keine 24 Stunden zuvor verkündet, dass er aussteigen wollte, hier sah es aber aus, als stand der Entschluss schon länger fest. Wäre er wirklich einfach so verschwunden? Ohne ein Wort?

Zurück ins Schlafzimmer zu gehen, und mich wieder an ihn zu kuscheln erschien mir nunmehr als falsch. Also holte ich Kaffee und setzte mich hin.

„Hey ...", sprach er mich erneut an und setzte sich neben mich aufs Sofa. „Konntest du nicht mehr schlafen?" Dabei fuhr er sich etwas verlegen durchs Haar.
„Wann?", fragte ich und blickte ihm in die Augen. Suchte darin nach der Wahrheit.

„Was wann?", wollte er verwirrt wissen. Aber ich wusste es selbst nicht genau. Wann würde er verschwinden? Wann hatte er sich dazu entschlossen? Und zu guter Letzt, was war plötzlich der ausschlaggebende Punkt?

Aber statt meine Fragen auszusprechen, deutete ich im Raum umher und zeigte auf die verteilten Kartons.

„Oh ...", machte er und ihm schien jetzt erst bewusst zu werden, dass ich von seinen Plänen keine Ahnung hatte.

„Ende des Monats ...", fügte er nach einer Weile hinzu, erhob sich und fing an, auf und ab zu gehen. Ganz automatisch überschlug mein Kopf die Zeit und Entsetzten machte sich in mir breit. „Das ist nur noch eine Woche!" Fassungslos starrte ich ihn an. Das konnte doch nicht wahr sein! Sechs Tage und er wäre einfach so verschwunden. Wohin auch immer.

„Ich ... Das ... Wieso ...", versuchte ich, meine sich überschlagenden Gedanken, in Worte zu fassen. „Etwa wegen Roman?"
„Nein, natürlich nicht wegen Roman!", fuhr er mich an. Als wäre diese Frage so abwegig. „Mir war klar, das dir nichts an ihm lag. Und das du Idiot dich da wieder in etwas verranntest. Hannes, ich kenn dich mein halbes Leben lang."
„Danke auch!", erwiderte ich genauso hart. „Warum dann? Warum jetzt? Wenn nicht wegen ihm." Ich war so enttäuscht. „Ohne mit mir vorher zureden!" Aber diese Tatsache, dass er einfach so aus meinem Leben verschwunden wäre, mich verlassen hätte, nach all den Jahren in denen wir durch dick und dünn gegangen waren, tat verdammt noch mal weh.

„Weil du mich geküsst hast, vielleicht?!", pfefferte er zurück. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach sagen sollen? Tut mir leid, Hannes, ich bin schon ewig in dich verliebt, und jetzt, wo du auf den Geschmack gekommen bist mit mir zu spielen, hab ich keinen Bock auf diese Scheiße! Weil mich das mehr verletzt, als alle Twinks zusammen, mit denen du jahrelang dein Katz und Maus Spiel gespielt hast?"

„Du bist verliebt in mich?", wollte ich wissen, auch wenn ich die Antwort theoretisch kannte. Spätestens nach unserer Nacht. Den anderen Vorwurf hatte ich durchaus auch gehört, aber diese wenigen Worte berührten mich. Lösten etwas in mir aus.

„Das ist doch egal! Und nicht die Kernaussage!", fauchte er mir zu und es reichte mir. Ich stellte die Tasse krachend auf den Tisch und erhob mich. Packte ihn an den Schultern und hielt ihn so damit auf, weiter wie ein Wilder durch die Gegend zu tigern.

„Mir ist das nicht egal! Hast du mich verstanden! Du warst mir immer wichtig! IMMER! Ja, ich war blind ... und ich hab jahrelang nicht gemerkt, dass der Mensch, nach dem ich die ganze Zeit so verzweifelt suche, vor meiner Nase sitzt, aber du hättest immer mit mir reden können! Statt hier alle Zelte abzubrechen und in einer Nacht und Nebel Aktion zu verschwinden!", sprudelte es nur so aus mir heraus. Ich redete mich in Rage. Aber ich musste das alles loswerden, sonst würde ich vermutlich platzen! „Und jetzt? Hast du immer noch vor zu gehen? Nachdem, was heute Nacht zwischen uns war? Gehen und nicht sagen wohin?"

Da war sie, die Frage, die mir eine Heidenangst bereitete und auf die ich irgendwie auch gar keine Antwort hören wollte.

Kurz sah Benny mir in die Augen und dann sah er weg. Diese kleine Geste glich einem Schlag ins Gesicht. Langsam ließ ich meine Arme sinken. Das konnte doch nicht wahr sein! Nicht nach unserer Nacht. Das war doch mehr als Sex. Das alles zwischen uns war mehr. Und mir war das verdammt noch mal klar. Niedergeschlagen ließ ich die Schultern sinken. Was sollte ich tun? Wie ihn vom Gegenteil überzeugen? Eine Nummer wie gestern, würde heute wohl nicht mehr funktionieren. Also starrte ich auf den Fußboden, suchte darin eine Lösung und verzweifelte.

„Geh nicht ...", presste ich hervor und ballte die Fäuste, um diese Leere, diesen Schmerz in meinem Inneren ertragen zu können. Aber auch das gab mir keinen Halt.
„Bitte, gib uns eine Chance. Ich weiß nicht wie, aber ich werde alles tun, um dir zu zeigen, zu beweisen, wie viel du mir bedeutest! Bitte ...", flüsterte in die Stille zwischen uns. Meine Hände zitterten, meine Augen brannten und ich wusste verdammt nochmal nicht, was ich tun konnte, um ihn zu halten. „Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren ... ich brauch dich ... ich ..."

Finger schlossen sich um mein Kinn und er schob es in die Höhe, damit ich ihn ansehen konnte. In seinem Gesicht, in seinem Blick spiegelte sich der gleiche Aufruhr wieder, der in meinem Inneren tobte. Pure Verzweiflung!

„Ich ...", wiederholte ich und brach ab. Sah nur noch in seine wunderschönen Augen. Die mich gefangen nahmen, mit ihrem Feuer darin. Mich verbrannten. Eine Träne, löste sich aus meinem Augenwinkel. Kullerte meine Wange hinab. Ich bekam es gar nicht wirklich mit. Konnte mich nicht lösen von seinem Anblick.

Plötzlich blinzelte er irritiert. Richtete seinen Blick auf die Finger, die immer noch fest mein Kinn umklammerten. Dann ging sein Daumen auf Wanderschaft, strich mir über meine Wange, hinterließ ein Kribbeln auf seinem Weg, um anschließend sanft über meine Lippen zu streichen. Feucht, kühl und salzig. Ich öffnete meinen Mund, wollte etwas sagen, doch da beugte er sich vor und verschloss ihn mit seinen Lippen. Erstickte all die nicht gesagten Worte. Meine Augen fielen zu und meine Arme schossen nach oben, um ihn an mich zu ziehen. Mich wie ein Ertrinkender an ihn zu klammern. Und ich küsste ihn, als würde mein Leben davon abhängen und irgendwo tat es das auch.

„Drei Monate!", hauchte ich zwischen unseren Lippen.
„Hmm ...", seufzte er an die meinen.
„Drei Monate. Danach kannst du gehen, wenn du immer noch meinst, gehen zu müssen!", nuschelte ich gegen seine heißen, feuchten Lippen, nicht bereit, mich zu lösen. Er schlug die Augen auf, hörte aber nicht auf immer wieder meine Lippen zu berühren.
„Du weißt, dass ich dann nicht mehr gehen kann ...", seufzte er und sein Kuss wurde noch einen ticken zärtlicher.
„Ja ... aber, solltest du es doch wollen, werde ich dich gehen lassen.", versprach ich ihm.

„Würdest du nicht ..." Ich spürte das Lächeln auf seinen Lippen, während er mich weiter küsste. Und spürte die Erleichterung in meinem Inneren. Drei kleine Worte. Die so viel bedeuteten. Die so viel mehr sagten. Eine Chance. Ben ... mein Benny, gab mir eine Chance! Und ... er glaubte mir ...

Mr. Unvollkommen (Mr. 4)Where stories live. Discover now