Vorlieben

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Reglos lag ich mit ausgestreckten Beinen auf dem viel zu großen Doppelbett. Mein Blick war starr auf die blass beige Tapete der Decke gerichtet, während meine Gedanken in der Vergangenheit herum geistern. Ich kann nicht anders, als daran zu denken, wie stark ich zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Nicht in Bezug auf körperliche Stärke, sondern die Stärke immer weiter zu machen.

Ich hatte viele Rückschläge erlitten, mir wurden immer wieder Steine in den Weg gelegt und man könnte nicht falscher liegen mit dem Gedanken, dass Gavin und Netereo es mir während der Trainings- und Lehrzeiten leicht gemacht hatten, doch ich war aufgestanden und habe weiter gemacht.

Ach, wie theatralisch ich doch werde, aber wie könnte ich nicht, wenn ich an meine aktuelle Situation denke. Schon wieder hatte ich aufgegeben, Hisoka gewähren lassen und so auf ein neues vor Augen geführt bekommen, wie willenlos ich an seiner Seite doch war.

Bei der Hunterprüfung, und auch danach, habe ich so viel lernen können, und doch bin ich noch immer hilflos unter den Blicken des Rothaarigen, wenn nicht sogar noch mehr als jemals zuvor. Dabei war es doch mein festes Ziel gewesen, gerade dieser Hilflosigkeit entkommen zu können.

Ich wage es, meinen Kopf von der Decke abzuwenden und in die Richtung zu meiner linken zu wenden. Wie könnte es anders sein, dort lag dieser Alptraum eines Mannes. Mein ganz persönlicher Alptraum.

In einer seitlichen Position hatte er sich mit nur wenig Abstand auf dem Bett niedergelassen, kurz nachdem er mich eigenhändig hier abgelegt hatte. Wie eine leblose Puppe habe ich mich tragen lassen, und das lässt mich mein gekränkter Stolz nun spüren. Doch ich bin ehrlich, ich bin mir nicht sicher, ob ich zu einem anderen Zeitpunkt anders gehandelt hätte. Die lauernde Angst, wenn dieser Mann mich in Bedrängnis bringt, wirkt noch immer lähmend auf meinen Verstand.

Was muss geschehen, dass dieser Mann mich endlich loslässt?
Diese Frage geistert immer wieder in meinem Kopf umher. Oder etwas realistischer formuliert: Wie verhindere ich, dass dieser Mann so viel Kontrolle über mich hat?
Sollte ich es testen? Einfach aufstehen, dieses Zimmer verlassen und so Gott will, auch dieses Gebäude, das ich inzwischen zu hassen gelernt habe. Nicht, weil ich das Konzept der Himmelsarena nicht gutheiße oder das Gebäude an sich nicht mag, ganz im Gegenteil, ich finde es einfach beeindruckend. Der Grund, warum ich dieses Gebäude verfluche, ist weil es sich wie mein eigenes kleines Gefängnis anfühlt.

Die Himmelsarena könnte sich noch um weitere 200 Etagen erstrecken und der Durchmesser könnte verdreifacht werden, solange die Ausgänge dieses Gebäudes eine Grenze darstellen, in der ich mich von Hisoka entfernen darf, werde ich mich beengt fühlen. 

Nun, vielleicht muss ich die Grenzen dieses Mannes nicht unbedingt im praktischen Sinne testen. Der Grund, warum ich überhaupt darüber nachdenke, diese Grenzen zu testen, ist weil ich keinen weiteren Ideen habe. Ich wüsste nicht, wie ich sonst Wege finden könnte, diesem Mann zu entkommen. Immer wenn ich Ansätze versuche, ihm aus dem Weg zu gehen, erstickt der Rothaarige diese im Keim.

"Ich möchte nach Hause.", sind meine einfachen Worte an meinen Gegenüber. Genauestens beobachte ich dabei seine Reaktion. Ich nehme wahr, wie seine Mundwinkel, die bereits in meinem leicht angestiegenen Winkel angezogen waren, nun noch weiter in die Höhe schießen. Seine gelben Irden mustern mich, genau wie ich ihn, haargenau.

Man könnte meinen, er würde meine Aussage nicht ernst nehmen. Das verspielte Grinsen auf seinen Lippen lässt immerhin viel Raum für Interpretation, doch ich kenne Hisoka Morow inzwischen gut genug, um sagen zu können, er nimmt mich ernst, durch und durch. Zumindest für diesen Augenblick.

Würde er meine Worte für unwichtig nehmen, hätte Hisoka diese mit einer leichten Geste, wie ein amüsiertes Schnauben oder Schulterzucken, abgetan. Fast ist es bedauerlich, wie gut ich diesen Mann inzwischen kenne und zugleich deuten kann.

"Aber das ist doch kein Problem.", beginnt er sorglos zu sprechen. Anhand seiner Stimmlage könnte man meinen, ich hätte ihn nach einem Glas Wasser gefragt. Und so kommt in mir in der kurzen Pause zwischen seinen Worten bereits ein kleiner Hoffnungsschimmer auf, der jedoch bei seinen darauf folgenden Worten sogleich im Keim erstickt wurde: "Wir müssen einfach dafür sorgen, dass dein zu Hause an meiner Seite sein wird."

"Oh'', ist das einzige, was ich über die Lippen bringe. Kein Wort dieser Welt könnte ausdrücken, wie sehr ich diesen Gedanken verabscheue und unrealistisch sich dieses Szenario allein in meinem Kopf anfühlt, also beschloss ich, es dabei zu belassen. Dass ich zuvor analysiert hatte, dass dieser Mann nicht gedankenlos antworten wird, liegt mir zusätzlich schwer im Magen.

Es fällt mir schwer einzuschätzen, inwieweit Hisoka diese Worte ernst meint, denn ja, offensichtlich ist er meiner Nähe nicht abgeneigt, aber der Gedanke an etwas Heimisches sieht in meiner Welt vollkommen anders aus.

Nun gut, das mit der Theoretischen Flucht war zugestandenermaßen kein guter Plan gewesen. Vielleicht sollte ich von Theorie zu Praxis wechseln.
Auf ein neues Versuchen, die Flucht zu ergreifen, klingt jedoch nach einem Plan, in dem mir meine Angst vor den Konsequenzen gut in die Quere kommen wird. Ich werde diesen Plan dabei belassen und für heute meine Gedanken ruhen lassen.

Mit diesem Gedanken drehte ich meinen Kopf wieder Richtung Decke und schloss meine Augen. Ich hatte mich schon fast daran gewöhnt, in der Nähe des Rothaarigen zu sein. Mich sogar für den Moment damit abgefunden, wie immer diesem Mann die Zügel zu überlassen. Immerhin hatte ich es nach dem Kuss sogar zugelassen, dass er mich in dieses Bett trägt.

Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er nach mehr verlangt hätte. Wobei das wohl die falsche Ausdrucksweise ist: Ich weiß nicht, was passiert wäre, hätte sich dieser Mann mehr als einen Kuss nehmen wollen. Immerhin ist Hisoka niemand, der nach etwas fragt. Er wird es sich einfach nehmen.

"Nora.", drang eine bekannte Stimme in mein Ohr, noch bevor ich vollständig einschlafen konnte. "Hisoka.", erwiderte ich wortkarg, als ich im selben Zug meine Augen öffne. Ich würde lügen, würde ich behaupten, es überrascht mich, als Hisoka sich erhob, seinen Körper über Meinen bringt und mich mit seinen stützenden Händen an den Seiten meines Kopfes an einer möglichen Flucht hindert.

Ich würde ihm nicht die Befriedigung einer Reaktion geben. Nicht wie das letzte Mal im Luftschiff der Hunter Vereinigung, denn genau das ist es, worauf diese Situation hinausläuft.

"Gibt es Vorlieben, die du im Bett hast?" Für einen kurzen Moment bleibt mir bei seinen Worten die Luft weg, doch brauche ich nur wenige Augenblicke, bis ich mich wieder fange. Dieses Spiel würde ich nicht verlieren, Hisoka Morow. Du denkst, du bringst mich deiner direkten, vulgären Art in Verlegenheit? Denkst du, ich würde wie ein kleines Mädchen wegen der unterschwelligen Bedeutung beginnen zu erröten? Diesen Erfolg werde ich ihm mit Sicherheit nicht vergönnen.

Und so lege ich als Zeichen einer fragenden Geste meinen Kopf leicht in die Schräge. Nicht weil ich ihn akustisch oder die Frage an sich nicht verstanden habe, sondern weil ich nicht verstand, warum er mir solch eine Frage stellte. Und dieser Tatsache ist sich mein Gegenüber genau bewusst.

"Es wäre nur zu deinem Vorteil.", fährt der Rothaarige fort. Seine unbekümmerte Art bei dieser intimen Frage ist zwar nicht wirklich angemessen, hilft mir aber nicht weiter, auf ihn zu reagieren. Immerhin würde es mir nicht einmal im Traum einfallen, diese Frage zu beantworten. Und das nicht nur, weil ich nicht wirklich eine Antwort auf diese Frage habe.
Es würde vermitteln, dass ich tatsächlich Interesse an diesem Mann hätte. Bei diesem Gedanken durchfährt mein Körper einen eisigen Schauer.

Als er merkt, dass er keine Antwort bekommen wird, fasst sich der Rothaarige theatralisch an die Brust und ein getroffener Ausdruck übermalt sein Gesicht. "Das schmerzt wirklich sehr, kleine Nora.", faselt er theaterreif, während er beginnt sich endlich von mir abrollen.

Und während bis eben noch alles in mir danach schrie, möglichst keine Reaktion von mir zu geben, kann ich jetzt nicht anders als mit einem kleinen Lächeln triumphierend an die Decke zu schauen. Es war das erste Mal, dass ich in einer direkten Konfrontation unser kleines Spiel gewonnen hatte.

Und so ist es das erste Mal, dass ich dieses kleine Spiel zwischen Hisoka und mir gar nicht mehr so sehr hasste.

HunterxHunter - Not EnoughOnde histórias criam vida. Descubra agora