Kapitel 1

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Eisgraue Augen starren mich an. Kritisch wanderten meine Augen über mein eigenes Spiegelbild und überprüften ein letztes Mal mein Outfit für den ersten Arbeitstag. Ich trug ein schlichtes weißes T-Shirt und eine hellblaue Jeans mit weißen Chucks. Meine Augen wandern über meine langen Haare, die in honigblonden Wellen bis zur Mitte meines Rückens flossen und weiter über meine Kurven, den flachen Bauch und die schlanken Beine. Ja, ich bin hübsch. Diese ekelhafte, perfekt Art hübsch zu sein, dass die Männer ihre Kumpels anzustoßen und in meine Richtung nicken lässt. Und die Frauen dazu bringt, eifersüchtige Blicke zu verteilen und mich von vornherein als potenzielle Freundin ausschließen. Meine Augen wandern wieder zu meinem Gesicht und meine vollen Lippen verziehen sich zu einem falschen Lächeln. Perfekt. Ich schüttelte angewidert den Kopf und schloss die Augen.
„June! Du kommst zu spät!", rief meine Mutter von unten.

In unserer Familie hießen alle Frauen in Reihenfolge der Monate. Meine Großmutter hieß April, meine Mutter trägt den Namen May. Und ich bin nunmal June. Was für eine bescheuerte Tradition.
Ich atmete einmal tief durch. Alles wird gut, dieses Mal wird es anders.
„Ja, ich komme!", rief ich zurück und schnappte meinen alten Rucksack, der auf dem Sessel in meinem Zimmer lag.

Ringsherum lagen halb ausgepackte Kartons und Kleidungsstücke. Bei unserem überhasteten Aufbruch aus Texas konnten wir nur sporadisch den Hausstand mitnehmen. Nicht mal alle Bücher konnte ich einpacken. Kurz vor meiner Zimmertür hielt ich inne und zögerte. Mein Blick fiel auf mein Tagebuch, dass offen auf der Matratze lag. Ein Bettgestell hatte ich noch nicht. Schnell steckte ich das Buch ein, nicht dass meine Mutter es während meiner Abwesenheit noch in die Finger bekam. Sie war schrecklich neugierig.

Ich rannte die Treppen runter und übersprang die letzen zwei Stufen. „Himmel, June!", rief meine Mutter am Fuß der Treppe und griff sich mit einer Hand an die Brust. „Du brichst dir noch die Läufe!", tadelte sie mich. „Jetzt beeil dich und mach einen guten ersten Eindruck! Heute Abend kommt dein Bruder an und wir werden im Ru-..."

„Ja, ich weiß", unterbrach ich sie schnell und fügte murmelnd hinzu: „Du redest seit Tagen über nichts anderes." Meine Mum war Mitte 40, aber sah mit ihren dunklen, langen Haaren und der sportlichen Figur eher aus wie meine Schwester. Äußerlich sahen wir uns bis auf die Haarfarbe und die Augen sehr ähnlich und je älter ich wurde, desto mehr Eigenarten stellte ich an mir fest, für die ich meine Mutter immer zum Teufel wünschen könnte. Fragend sah mich meine Mutter mit ihren grün-blauen Augen an. Ihre Augen strahlten wie ein Waldsee an einem Sommertag. Meine Augen erinnerten eher an die Farbe von Wolken an einem besonders verregneten Herbsttag - ein schlechtes Omen. Ich schob den Gedanken beiseite und gab meiner Mum einen Kuss auf die Wange. „Mach's gut!", sagte ich und trat aus der Haustür.

Warme Sonnenstrahlen trafen auf mein Gesicht, eine Jacke würde ich heute nicht brauchen. Unsere Hütte lag in einer kleinen Siedlung abseits vom städtischen Verkehr und war nur über einen schmalen Waldweg zu erreichen. Ab und an verirrten sich Wanderer hierher auf die Lichtung, ansonsten blieb man jedoch unter sich. Es war, als würden die Stadtbewohner ahnen, dass sie hier nicht dazu gehörten. Die Siedlung selbst bestand aus ca. 24 Holzhütten und - häusern, die kreisförmig in Reihen um einen Platz aufgebaut waren. Ringsumher standen hohe, dichte Tannen und Kiefern, die sich im Wind wiegten und Schatten auf den Platz in der Mitte der Siedlung warfen. Ich schloss die Augen, holte tief Luft und atmete die frische Waldluft ein. Neben dem Duft von Moos, Harz und Gräsern mischte sich auch der Geruch von feuchter Erde und warmem Holz. Ein weiterer Duft mischte sich unter den Wind und ließ meinen Magen knurren. Aber das Essen musste warten, ich war schließlich schon spät dran und das will man am ersten Arbeitstag wirklich vermeiden.

***

Das kleine Café im Tal unterhalb der Siedlung lag an der örtlichen Hauptstraße und strahlte Gemütlichkeit und Freundlichkeit aus. Im Ort selbst schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Männer unterhielten sich an ihre alten Pick-Ups gelehnt und deuteten beim Vorübergehen einen Gruß an ihren Cowboyhut an. Ich war beinahe versucht, ihren Gruß mit einem Knicks zu erwidern. Aber nur fast.

Grey on GoldWhere stories live. Discover now