Kapitel 24

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June
Nach wenigen hundert Metern verlor ich den Überblick. Meine Instinkte trieben mich weiter, spornten meine Muskeln an, sich schneller zu bewegen und mich der Geschwindigkeit des Rudels anzupassen. Ich spürte meine Mutter neben mir laufen und war froh, einen vertrauten Geruch zu vernehmen. In der Luft lag Anspannung, Erregung, Wut.. aber auch Angst. Sollte es zu einem Kampf kommen, würden nicht alle nach Hause kommen. Wir rannten durch den Wald, die Bäume und Sträucher verschwammen in meinen Augenwinkeln, als wir in rasendem Tempo auf die Lichtung zusteuerten. Wir kamen hinter Will und der Führung des Rudels zum stehen. Meine Mutter neben mir fletschte die Zähne und ein Knurren drang aus ihrer Kehle. Ringsumher vernahm ich ein drohendes Grollen, dass wie ein riesiger Bienenschwarm immer lauter wurde.

Vor uns bot sich ein Anblick, wie ein Spiegelbild. Francis war mit fast all seinen Kämpfern gekommen. Er selbst stand in ihrer Mitte, noch in Menschengestalt. Ich erstarrte, als ich sein Gesicht sah. Es war völlig verunstaltet und das, was früher mal sein rechtes Auge war, bestand nur noch aus einem klaffenden schwarzen Loch. Dort hatte ich ihn erwischt. Ich erschauderte und mein Blick huschte über die Reihen. Ich erkannte ein paar Gesichter und ein Gefühl von Reue überkam mich. Wir würden gegen unsere alten Freunde kämpfen müssen. Ich warf meiner Mutter neben mir einen Blick zu, doch ich spürte ihrerseits nur Feindseligkeit. Ihr Blick war auf Francis gerichtet und ich sah, wie sich ihr Nackenfell aufgestellt hatte. Reiß dich zusammen, June. Jeder entscheidet für sich selbst, wem er folgt. Ist das so?, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Ich schüttelte die Zweifel beiseite. Diese Gedanken konnte ich mir in dieser Situation nicht leisten. Ich musste meine Familie beschützten. Ein Knurren drang aus meiner Kehle.
„Es ist ganz einfach", sagte Francis mit schnarrender Stimme. „Ich bin nur hier, um Satisfaktion für unsägliche Untreue zu fordern." Sein Blick wanderte über unsere Reihe und blieb erst an meiner Mutter und dann auf mir hängen.
„June Haven. Ich habe nicht damit gerechnet, dass du tatsächlich selbst kämpfen willst."
Ich trat von einer Pfote auf die andere. Er war tatsächlich nur gekommen, um mich zu bestrafen. Nur meinetwegen könnte jemand aus dem Rudel verletzt werden. Ich fühlte mich elend. Als hätte er meine Gedanken gehört, lachte Francis hart auf.
„Wollt ihr wirklich für diese Verräterin kämpfen und sterben? Sie hat sich bei euch eingenistet, euch verschwiegen, wer sie wirklich ist, was sie getan hat..." Francis Monolog würde durch ein tiefes und aggressives Knurren unter-brochen.
Erst dachte ich nur, Will hätte sich an seinen Anschuldigungen gestört, aber gleichzeitig sah ich, wie Felix die Zähne fletschte, Jace sich vor mich stellte und auch andere Rudelmitglieder dichter an mich heranrückten. Mein Blick schoss zu Clark, der am Rande des Texas Rudels stand. Ein Ausdruck von Unsicherheit huschte über sein Gesicht.
„Ah, ich verstehe." lenkte Francis meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Francis nickte wissend, als er einen Blick mit seinem Beta ausgetauscht hatte.
„June, Liebes, du stinkst nach Verpaarung. Und wenn ich mir das so ansehe, hast du dir wohl den Richtigen aus dem Rudel ausgesucht."
Ich sah noch den Ausdruck auf Francis Gesicht, voller Wahnsinn und Hass. Er wusste, dass diese Demütigung das Fass zum Überlaufen brachte.
Dann ging alles ganz schnell. Will's Haltung spannte sich an und mit ihm verbunden, machten alle anderen Wölfe unseres Rudels instinktiv ihren Körper für den Sprung bereit. Will stieß ein animalischen Knurrlaut aus und mit einem Satz befand er sich mitten im Getümmel. Francis verwandelte sich in Sekundenschnelle im Schutz seines Beta und der Kampf begann.

Ich sah, wie Felix die Flanke von einem roten Wolf aufriss, wie meine Mutter gemeinsam mit Dina einer anderen Wölfin an die Kehle ging, wie mein Bruder gemeinsam mit den anderen Halbstarken gegen den Beta kämpften. Will musste sich gleich gegen drei Widersacher zur Wehr setzen, aber sie hatten keine Chance gegen ihn. Ich setzte an, um Will zu unterstützen, aber schon sprang Jace an seine Seite und sie trieben die anderen vor sich her. Ich preschte vor, um meinem Bruder zu helfen, aber ein anderen Wolf sprang mir auf den Rücken und versuchte, seine Zähne in meinen Schulter zu graben. Ich drehte mich und verfehlte meinen Angreifer knapp. Ich knurrte und wir begannen, uns zu umkreisen. Der andere Wolf schien auf etwas zu warten. Ich machte einen Satz nach vorne und versuchte, ihn umzustoßen.
Plötzlich spürte ich einen scharfen Schmerz im Nacken. Links von mir war ein riesiger weißer Wolf ohne rechtes Auge aufgetaucht und hatte mich wie einen Welpen im Nacken gepackt und hochgezerrt. Ich winselte. Er würde mich töten. Gleich bricht er mir das Genick. Ich hörte das Geheul meiner Mutter, als sie mich sah und spürte eine unsägliche Angst durch mein Band mit Will.
Nein! So werde ich nicht sterben! Ich knurrte und stemmte meine Hinterläufe in den Boden, um mich Francis entgegen zu drücken. Ich stieß mich ab, nur um mich mit voller Kraft zu Boden zu schmeißen. Ich spürte die ganze Kraft des Rudels in mir. Francis überschlug sich, rappelte sich aber direkt wieder auf. Jetzt sprang Will ihm auf den Rücken, während Felix und Jace den Beta von Francis abhielten. Ich drehte mich und schnappte nach der linken Flanke. Ich spürte, wie sich meine Zähne durch Fell und Haut bohrten und dann hatte ich den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Francis versuchte, mich mit seinem Maul zu erwischen, aber Will hatte seinen Nacken so fest im Griff, dass sich der Kopf fast unnatürlich nach hinten bog. Mit einer schnellen und starken Bewegung sprang meine Mutter Francis an die Kehle und biss zu. Nach einem leichten Ruck wurde der Körper von Francis schlaff. Ich ließ sofort von ihm ab. Sein Körper zuckte noch ein paar Mal und schließlich verwandelte er sich zurück in seine Menschengestalt.
Ein ohrenbetäubendes Geheul erklang. Voller Schmerz und Wut. Das Texas Rudel verlor die Fassung und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Wenn du jetzt nichts unternimmst, wird sich nie etwas ändern. Ich musste auf meine innere Stimme hören. Dieser Kampf, diese Feindschaft zwischen den Rudeln musste hier enden. Und es gab keinen anderen Weg, als zu dem Texas-Rudel zu sprechen.
Alles in mir sträubte sich gegen die Verwandlung. Meine Wölfin wollte nicht weichen, aber ich zwang meine Muskeln sich wieder zu verlängern und meine Knochen zurück in eine aufrechte Form zu springen. Eine solche schmerzhafte Verwandlung hatte ich noch nie. Ich keuchte auf, als ich endlich wieder in Menschengestalt auf der Lichtung stand. Meine Mutter blickte mich fassungslos an und Will machte bereits einen Satz nach vorne.
„Nicht! Das muss aufhören!", schrie ich. Zu meiner Erleichterung blieben die Kampfhandlungen eingestellt. Die Wölfe des Texas-Rudels schienen immer noch fassungslos zu sein und unser Rudel nutzte diese Starre nicht aus.
„Wir dürfen nicht zulassen, dass wir uns weiter bekämpfen. Wir wollten nur in Freiheit und Gleichberechtigung leben." Meine Stimme klang verzweifelt und ich sah meine Mutter hilfesuchend an. Sie nickte mir zu.
„Wir sind alle frei. Das Rudel ist ein Privileg, aber keine Pflicht. Wir haben einen freien Willen und jeder von uns muss das Recht haben, frei über sein eigenes Leben entscheiden zu dürfen. Wir müssen uns an die heutige Zeit anpassen. Es ist das Recht eines jeden, „nein" zu sagen. Nein zu Unterdrückung und nein zu Demütigungen." Ich holte tief Luft und sah in Richtung der jungen Wölfe im Rudel.
„Ihr könnt euch uns anschließen. Hier bietet das Rudel Sicherheit und garantiert euch Freiheit. Euch allen", sagte ich und schaute zu den Wölfinnen. „Das Töten muss aufhören. Entweder ihr schließt euch uns an oder ihr werdet jetzt aus unserem Revier verschwinden."
Ich sah angewiderte, wütende, verunsicherte Mienen, aber auch einige zweifelnde Gesichter.
„Mein Mann war euer Bruder und euer Gamma. Er hätte diesen Krieg nicht gewollt." Meine Mutter hatte sich verwandelt und war neben mich getreten.
„Francis hat ihn für seine bloßen Ansichten ermordet und dafür haben wir ihn gerächt. Jetzt entscheidet euch."
Der Beta schien die Situation abzuwägen, entschied sich jedoch offenbar für einen Rückzug. Er stieß ein Knurren aus und mit einem Satz machte er kehrt und lief in Richtung der Grenze davon. Ungefähr die Hälfte des Rudels schloss sich ihm umgehend an und verschwand nach und nach in den Bäumen. Ein paar Wölfe schauten sich verunsichert an. Mir fiel auf, dass besonders die jungen Wölfinnen auf der Lichtung blieben. Nach einem weiteren Geheul, machten nach und nach weitere Wölfe kehrt. Am Ende verblieben fünf Wölfe aus dem Texas-Rudel auf der Lichtung stehen und schauten uns unsicher an.
Will verwandelte sich zurück und die anderen Rudelmitglieder, bis auf Felix und Jace taten es ihm gleich. Ich sah mich um. Meine Mutter war blutüberströmt, aber es war nicht ihr eigenes Blut. Einige hatten Verletzungen an den Rippen und Beinen, aber es gab keine Verluste. Ich atmete erleichtert auf. Es war vorbei. Ich spürte, wie das Adrenalin aus meinem Blut wich. Ein stechender Schmerz in meinem Rücken ließ mich scharf einatmen. Ich blickte an mir herunter und sah, dass mir das Blut über die Schultern den Körper herunterlief. Meine Mutter strich mir über die Wange und begutachtete die Bisswunde von Francis in meinem Nacken. „Das muss genäht werden", hörte ich sie sagen. Aber ich war mit meinen Gedanken schon wieder woanders.
Will war zu den Mitgliedern des Texas-Rudels herüber gegangen und sprach mit ihnen. Sie hatten sich ebenfalls zurückverwandelt und gaben nach-einander Will die Hand. Will nickte ihnen zu und lief dann zu mir herüber.
„Wie geht's dir?", fragte er und verzog beim Anblick meines Rückens leidvoll das Gesicht. „Was hast du dir nur wieder dabei gedacht?", fragte er gereizt, aber mit deutlicher Sorge in der Stimme. Mich überkam eine unendliche Müdigkeit und mir wurde langsam schwindelig.
„Lass uns gehen. Ich will nach Hause.", flüsterte ich.
„Sie verliert zu viel Blut", sagte meine Mutter und Panik schwang in ihrer Stimme mit. Ich vernahm weitere Stimmen und Aufregung um mich herum.
„June!" - „Holt Hilfe!" - „Baby, bitte bleib wach!" Alle Stimmen riefen durcheinander. Ich wollte Ihnen antworten, aber es kamen keine Worte über meine Lippen. Und dann nichts als Schwärze.

Grey on GoldWhere stories live. Discover now