Sieben Millionen und drei Jahre

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-Ellen-

Als ich am Dorfrand angelangte, war niemand zu sehen. Kein Wunder, immerhin war es fast Mitternacht.
Ich stapfte durch die Gassen des Dorfes, um eventuell noch einen brennenden Kamin zu erblicken oder eine andere wache Person, die ich ansprechen könnte.

Das Dorf war klein und bestand aus maximal zwölf Häuschen, und trotzdem hätte man sich hier verlaufen können. Überall waren kleine Gässchen, Wege, denen man ansah, dass sie bloß im Kreis führten, und schließlich ein kleiner Marktplatz mit Brunnen.

Verlegen blickte ich mich um. Dann ging ich auf diesen zu und begann, die Kurbel zu drehen, die den Eimer in die Tiefe wandern ließ. Der Eimer kam auf der Wasseroberfläche auf und füllte sich langsam. Danach zog ich ihn wieder nach oben und nahm durstig mit den Händen einen Schluck nach dem anderen, bis ich schließlich eine Stimme hinter mir hörte.

"Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas getrunken?"
Ich verschluckte mich ganz fürchterlich und drehte mich hustend zu der Stimme um. Vor mir stand ein Junge mit zerzausten Haaren, vielleicht neun Jahre alt, und blickte mich kichernd an.

"Ähm", brachte ich angestrengt hervor, "keine Ahnung, um ehrlich zu sein."
Ich prustete noch immer das Wasser aus meiner Luftröhre. Der Junge grinste und wartete höflich, bis ich den Hustenkampf für mich entschieden hatte.
"Warum bist du eigentlich noch so spät auf?", fragte ich ihn und kam mir dabei ein bisschen dumm vor.
"Ich war mir Papsi sternefischen." "Wie bitte?"
"Sternefischen. Hast du etwa Petersilie in den Ohren?"
Irritiert schüttelte ich den Kopf.
"Was ist denn Sternefischen?"
Die Augen des Jungen funkelten auf. "Ich kann es dir beibringen!"
"Aber -", doch da zerrte er mich schon mit sich.
"Kleiner, wo ist denn dein Vater?" Tadelnd schaute er zu mir hoch. "Erstens heiße ich nicht 'Kleiner', sondern Damian, und zweitens ist der doch beim Sternefischen!"
Ich gab auf und ließ mich von ihm ziehen.

Nach einer Weile erreichten wir ein freies Feld, von dem aus man den Sternenhimmel wunderbar erkennen konnte. Auf dem Gras lag ein junger Mann, der eben diesen fasziniert zu betrachten schien. Als er unsere Schritte hörte, blickte er auf.
"Mein Sohn, wen hast du uns denn da mitgebracht?", fragte er verwundert. "Es tut mir leid, Ihr Sohn -", setzte ich an, doch Damian unterbrach mich. "Ich hab keine Ahnung, wer das ist, aber sie hatte Durst und jetzt will ich ihr das Sternefischen beibringen."
Er bedeutete mir, mich ebenfalls ins Gras zu legen und ich folgte ihm. "Entschuldigung, er hat mich einfach mitgezogen."
Doch der Mann lachte amüsiert.
"Alles gut, ich kann mir das lebhaft vorstellen. Ich bin Ihden. Aber du kommst nicht von hier", stellte er interessiert fest.
"Ja, ich komme aus Ephredon. Lange Geschichte. Mein Name ist Ellen."
"Aus Ephredon?" Er wirkte besorgt. "Wie schlimm ist es? Bist du vor den Angreifern geflohen?"
Ich lachte resigniert.
"So ungefähr. Ich wurde entführt, konnte mich aber befreien. Die ganze Nacht lang bin ich hier hergerannt. Ich wollte eigentlich nach einer Bleibe fragen."
"Du kannst selbstverständlich bei uns unterkommen. Aber, entführt sagst du? Von den -", er senkte die Stimme, "Schwarzen Kriegern?"

Bevor ich antworten konnte, schaltete sich Damian wieder ein. Er hatte die ganze Unterhaltung lang abwesend in den Himmel gestarrt.
"Ellen, jetzt komm schon. Reden kannst du auch am Tag. Sternefischen nur in so klaren Nächten wie dieser." Er griff nach meinem Arm und zog ihn in die Höhe. Ihden musste grinsen.
"So", meinte Damian zufrieden,
"Jetzt musst du dir einen der Sterne aussuchen."
Das war leichter gesagt als getan. Über mir leuchteten und funkelten Milliarden an Sternen. Ich musste ein bisschen lächeln.
"Was ist?", wollte Damian wissen.
"Es ist so wunderschön. Majestätisch ..."
Damian nickte.
"Ich sehe, du hast das Prinzip verstanden."
Er strahlte.
"Hast du einen Stern?"

Ich entschied mich für einen besonders hellen und deutete, so genau es ging, darauf. Damian stutzte erfreut.
Der helle da?"
"Das siehst du so genau? Ehrlich gesagt, so genau kann man doch gar nicht deuten."
Er schüttelte den Kopf.
"Das ist ja auch egal. Nur ... das war auch der Stern, den ich bei meinem ersten Sternefischen hatte."
Verblüfft sah ich ihn an. "So ein Zufall", meinte ich.
"Quatsch! Das war Schicksal!"
Ich schmunzelte.
"So", sagte Damian, "präg dir den Stern genau ein. Jetzt schließ die Augen und leg die Hand, mit der du auf ihn gezeigt hast, auf dein Herz. Super!"
Dann blieb es eine Weile still, und ich verharrte regungslos.

"Wie ist sein Name?"
"Wie?"
"Sein Name. Gib dem Stern einen Namen."
Ich schmunzelte.
"Ich weiß nicht"
Mir fiel kein guter Sternenname ein. "Irgendeiner!", ermunterte Damian mich.
"Silahs."
"Perfekt. Wie alt ist er?"
Ich wusste nicht so ganz, worauf er hinauswollte, aber ich machte mit. "Bestimmt sieben Millionen und drei Jahre alt."
"Das ist ein schönes Alter."
Ich hörte, dass er lächelte. Dann fragte Ihden mich etwas:
"Findet er die Monde nett?"

Ich rief mir das Bild der vier Monde vor Augen, die Tag für Tag ihre Runden über den Nachthimmel zogen.
"Ja. Besonders den rötlichen mag er. Der grüßte ihn immer, wenn er vorbeikommt."

Das ging eine Weile so weiter, und schließlich hatten wir einen schusseligen Stern mit Vorliebe für Hirschgeweihe und knallgelbe Pferdekarren sowie drei Söhnen und einem unerschöpflichen Büchervorrat auf seinem Kopf zusammengestellt.
Falls Sterne überhaupt Köpfe hatten.

Als den beiden keine Frage mehr einfiel, schwiegen wir eine Weile.

"Bestimmt hat er schon unglaublich viel erlebt. Sieben Millionen und drei Jahre sind eine lange Zeit."
Damian klang nachdenklich. Ich nickte. Meine Augen hielt ich noch immer geschlossen.
"Er ist ein ganz besonderer Stern", fand Ihden.
"Definitiv! Der erste Stern ist immer der besonderste."
Damian stupste mich an.
"Mach mal die Augen auf."
Ich gehorchte.

Die Pracht des Himmels war ungebrochen. Und ein bisschen schien es mir, als leuchtete Silahs noch heller als zuvor.
"Das ist so, weil er lächelt. Wenn Sterne lächeln, leuchten sie immer heller", erklärte Damian, der zu wissen schien, was in mir vorging.

"Danke", sagte ich.
"Wofür?"
"Das ist so schön."
"Das Sternefischen?"
"Ja."
Damian lächelte.
"Du bist so niedlich, Ellen."
Ich grinste. Da schlang Damian seine Arme um mich.
"Ich hab dich jetzt schon lieb!"

Ich saß am Küchentisch der jungen Familie. Geraden kam Ihden die Treppe hinunter.
"Damian schläft jetzt", sagte er mit gedämpfter Stimme.
"Vielen Dank, dass ich bei Ihnen übernachten darf", beeilte ich mich zu sagen.
"Aber natürlich doch." Kayra, die Mutter von Damian, lächelte mich an. Ihden setzte sich zu uns.

"Damian hat wirklich einen Narren an dir gefressen. Er schleppt zwar öfters mal Fremde an, aber zum Sternefischen durfte noch niemand mitkommen."
Ich schwieg lächelnd.

"Na dann,", Kayra stand auf, "wünsche ich allen eine gute Nacht."

Ihden führte mich noch zu einem kleinen Strohbett, das er mir bereitet hatte, und kurz darauf schlief ich auch schon ein.
Ich war todmüde.

Dunkelelfen - Die sieben Kinder des LebensWhere stories live. Discover now