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A D R I E N

Gegen 6:00 Uhr morgens stehe ich freiwillig auf, noch bevor mein Wecker klingelt. Draußen ist es stockdunkel, wie es sich für einen Januarmorgen gehört. Dem leisen Klopfen an meiner Fensterscheibe nach zu urteilen, regnet es außerdem. Hoffentlich verzieht sich das schlechte Wetter bald, denn ich habe nicht die geringste Lust, in der nassen Dunkelheit zur Bahn laufen zu müssen. Wenigstens ist es von hier bis zur Haltestelle nicht besonders weit.

Übermüdet und schlecht gelaunt trotte ich ins Badezimmer, um unter der Dusche etwas munterer zu werden. Letzteres funktioniert zwar, aber meine Stimmung bessert sich dadurch nicht unbedingt. Während ich mir anschließend die Zähne putze, betrachte ich missmutig mein eigenes, finster dreinschauendes Spiegelbild. Die geschwollenen, dunklen Ringe unter meinen Augen stehen sinnbildlich für die schlaflose Nacht, die ich hinter mir habe und verleihen mir das Aussehen eines erschöpften, deprimierten Pandas.

Nachdem ich mir halbherzig die Haare getrocknet und mich angezogen habe, schlurfe ich in die Küche, die gleichzeitig auch unser Wohnzimmer ist. Wie jeden Morgen mache ich mich an der Kaffeemaschine zu schaffen, denn ohne meine tägliche Dosis Koffein wäre ich definitiv aufgeschmissen. Aus dem Flur hinter mir ertönt ein Geräusch – Bibi tapst aus Noels Zimmer und steuert schwanzwedelnd auf mich zu. Naserümpfend fülle ich ihren Napf mit einer Portion Nassfutter und sehe zu, wie sie sich schlürfend und schlabbernd darüber hermacht.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie Noel und ich sie damals gefunden haben. In einem heruntergekommenen Park, unter einer morschen Holzbank. Den Anblick des hilflosen, wolligen Hundebabys, das mutterseelenallein in einem Pappkarton ausgesetzt wurde und nur einen braunen, etwas dreckigen Stoffhasen als Gesellschaft hatte, werde ich wohl nie vergessen. Noel war sofort dafür, sie zu behalten, ich hingegen wollte sie eigentlich ins Tierheim bringen. Schließlich hat mich Coco, die Hündin meiner Mutter, früher schon genug Nerven gekostet.

Letztendlich hat sich mein Cousin durchgesetzt und vorgeschlagen, sie „Brigitte" zu nennen – wie Brigitte Bardot, deren jüngere Version er seit jeher ziemlich heiß findet. Mir geht's nicht anders, aber ich fand den Namen etwas zu altmodisch für ein kleines, niedliches Hündchen. Deswegen haben wir uns auf Bibi geeinigt und ihr Stoffhase, den wir natürlich erst mal gründlich waschen mussten, heißt jetzt Bernard, wie Bardots Ehemann. Inzwischen ist Bibi ausgewachsen und gehört fest zu unserer Familie dazu. Selbst ich habe sie so sehr ins Herz geschlossen, dass ich gelegentlich meine Croissants mit ihr teile.

Nachdem die Hündin ihr Frühstück verputzt hat, macht sie sich mit einem wohligen Seufzen auf dem Sofa breit. Ich trinke derweil meinen Kaffee, dessen Wirkung mich tatsächlich ein wenig aufmuntert. Irgendwann fällt mir ein, dass ich Noel noch eine Wiedergutmachung schulde, weshalb ich eine zweite Tasse fülle und damit leise zu seiner Zimmertür gehe. Mein Cousin liegt bäuchlings auf seinem Bett und hat sich, wie ich im Dämmerlicht erkennen kann, nicht einmal seine Straßenklamotten ausgezogen.

Beinahe geräuschlos stelle ich die dampfende Kaffeetasse auf seinem Nachtschränkchen ab, schleiche anschließend rüber zu seinem Schreibtisch und kritzle eine kurze Nachricht auf einen Zettel, in der ich mich für meinen nächtlichen Ausraster entschuldige. Jenen Zettel klemme ich unter die Tasse, damit er ihn auf jeden Fall sieht, wenn er aufwacht. Danach verlasse ich das Zimmer wieder und hoffe, dass Noel mein Friedensangebot annehmen wird. Zum Glück ist er kein besonders nachtragender Mensch.

Auf dem Weg zur Haustür stolpere ich beinahe über seinen Koffer, den er natürlich mitten im Flur hat stehenlassen. Mühsam unterdrücke ich ein Fluchen und räume das Ding beiseite, bevor sich noch jemand das Genick bricht. Ich frage mich, wann mein Cousin den Koffer zuletzt ausgepackt hat. Seitdem Noel vor einiger Zeit im Club von einem Modelscout angesprochen und zu einem Probeshooting eingeladen wurde, läuft es mit seiner Karriere immer besser. Er ist häufig unterwegs, wird zu Castings eingeladen, für Fittings, Werbekampagnen und Editorials gebucht.

Damit verdient er zumindest so viel Geld, dass er den Großteil unserer Miete bezahlt. Ich arbeite zwar auch neben meinem Studium, aber das Gehalt eines aufstrebenden Models ist nun mal größer als das eines einfachen Teilzeitkellners. Im Gegensatz zu mir kann er sich auch ein eigenes Auto leisten. Zwar darf ich es mitbenutzen, allerdings ist es am Ende des Tages eben doch nicht meins. Manchmal beneide ich ihn schon ein wenig, insbesondere in diesem Moment, als ich mit meinem Rucksack das Haus verlasse und die dunkle Rue des Iris entlang laufe, die im geblichen Licht der Straßenlaternen geradezu gespenstisch wirkt.

Selbstverständlich hat es nicht aufgehört zu regnen, im Gegenteil: Ein ekliger, fieser Nieselregen peitscht mir ins Gesicht, denn obendrein fegt auch noch ein kalter Wind durch die Straßen der Cité Florale. Unser Viertel heißt so, weil ein Großteil der Häuser hier von Weinreben überwuchert wird und viele Balkone mit farbenfrohen Blumen geschmückt sind. In den Sommermonaten, wohlgemerkt. Jetzt im Winter blüht natürlich gar nichts und die sonst so schöne Gegend wirkt dementsprechend trostlos.

Mit einer Hand ziehe ich mir meine Kapuze in die Stirn, während ich mit der anderen meine AirPods hervorkrame. Begleitet von GIMS und Black M laufe ich zur Haltestelle, wobei ich unterwegs beinahe gegen eine Laterne knalle, weil mir meine Kapuze teilweise die Sicht versperrt. Noch immer bin ich ziemlich unmotiviert, aber ich weiß, dass ich lernen muss, wenn ich meine Klausuren bestehen will. Ich studiere Geschichte und Philosophie an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, was bedeutet, dass lange Aufenthalte in der Bibliothek Teil meines Alltags sind.

Auch heute werde ich den Vormittag wohl damit verbringen, staubtrockene Fachliteratur durchzukauen und mir seitenweise Notizen zu machen. Hoffentlich geht die Zeit möglichst schnell vorbei. Die Bahn hat wie immer ein paar Minuten Verspätung, aber mir fehlt die Kraft, um mich darüber aufzuregen. Stattdessen steige ich einfach ein, vermeide es sorgfältig, den anderen Fahrgästen ins Gesicht zu schauen und setze mich auf einen freien Platz am Fenster.

Die ganze Fahrt über starre ich hinaus, ohne die Umgebung draußen wirklich wahrzunehmen. Nicht einmal die langsam aufgehende Sonne, die sich jedoch größtenteils hinter tief hängenden Wolken versteckt, kann den grauen Filter vertreiben, durch den ich die Welt seit geraumer Zeit betrachte. Ich weiß selber nicht, warum ich das tue. Es gibt keine rationale Erklärung dafür.


J'ai besoin de toiWhere stories live. Discover now