Trois

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A D R I E N

Der Vormittag in der Bibliothek war genauso öde, wie ich es erwartet habe. Was mein Lernpensum angeht, bin ich zwar ganz zufrieden mit mir, aber so richtig freuen kann ich mich darüber nicht. Im Gegenteil – meine Laune wird sogar noch schlechter, als ich das Gebäude verlasse und dabei ausgerechnet Vici über den Weg laufe. Reflexartig senke ich den Kopf und beschleunige meine Schritte, doch es nützt nichts, sie hat mich nämlich längst bemerkt.

„Adrien!", flötet sie mit ihrer unangenehm hohen Stimme und gleich darauf schiebt sich ein brauner Haarschopf in mein Sichtfeld. „Läufst du etwa vor mir weg?" Ihre dunklen Rehaugen heften sich auf mein Gesicht, aber ich schaue sie nicht an, sondern weiche ihrem Blick aus.

„Ja", antworte ich trocken und weiche vor ihr zurück, da sie Anstalten macht, mich zu umarmen. „Ich hab keine Zeit, ich muss zur Arbeit." Das ist noch nicht einmal gelogen. Leider – oder sollte ich sagen, zum Glück? – habe ich heute die Nachmittagsschicht zugeteilt bekommen, was für mich eine willkommene Ausrede ist, um Vici abzuwimmeln.

„Schade", sagt sie und zieht eine enttäuschte Schnute. Tatsächlich tut sie mir fast ein bisschen leid. Auf einer der wenigen Partys, die ich in letzter Zeit besucht habe, sind wir zusammen in der Kiste gelandet. Es war nicht schlecht, aber ich weiß trotzdem nicht, was ich mir dabei gedacht habe – im nüchternen Zustand ist mir nämlich schnell klar geworden, dass sie mich überhaupt nicht interessiert.

„Hm, total schade", entgegne ich mit halbherzig gespieltem Bedauern und wende mich zum Gehen. „Pardon, aber ich muss jetzt wirklich los. À bientôt." Ich gebe ihr gar nicht erst die Gelegenheit, etwas darauf zu erwidern, sondern mache, dass ich von ihr wegkomme.

Hoffentlich ist Vici jetzt beleidigt und lässt mich fortan in Ruhe. Ich habe weder Zeit, noch Lust, mich weiterhin mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Zum Glück unternimmt sie keinen Versuch, mir zu folgen. Im Laufschritt renne ich zur nächsten Haltstelle, damit ich die Bahn erwische, die mich zu meinem Arbeitsplatz bringt. Seit fast zwei Jahren arbeite ich in einem chinesischen Restaurant, das den wahnsinnig kreativen Namen Yin Yang trägt und sich im 13. Arrondissement befindet, genau wie Noels und meine Wohnung.

Mein Chef heißt Ming und kommt ursprünglich aus Nanjing. Wie er hier in Paris gelandet ist, weiß ich nicht, aber er hat mir erzählt, dass es schon immer sein größter Traum war, eines Tages ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Ich bin froh, ihn als Chef zu haben und wir kommen gut miteinander klar, auch wenn ich ihn gelegentlich zum Verzweifeln bringe. Sei es, weil ich versehentlich die Bestellungen durcheinanderbringe oder weil ich nicht dazu in der Lage bin, chinesische Wörter korrekt auszusprechen.

Ming hat schon öfter den Versuch unternommen, mir seine Muttersprache beizubringen, damit ich mich besser mit meinen Kollegen verständigen kann – die meisten von ihnen stammen nämlich ebenfalls aus China. Leider habe ich mich dabei jedes Mal so schlecht angestellt, dass er irgendwann frustriert und den Tränen nahe aufgegeben hat. Einem sprachlich unbegabten Franzosen Nachhilfe in Chinesisch geben zu wollen, ist vielleicht nicht unbedingt die erfolgversprechendste Idee.

Da auf die Bahn wie immer kein Verlass ist, schaffe ich es nicht ganz pünktlich ins Restaurant. Meine Schicht hat schon vor einer Viertelstunde angefangen und Ming sieht dementsprechend wenig begeistert aus. „Schön, dass du auch noch kommst", begrüßt er mich trocken, aber nur halblaut, sodass die anwesenden Gäste ihn nicht hören können. „Leg deine Sachen ab, es gibt viel zu tun."

„Oui, Monsieur", antworte ich folgsam und steuere auf die Tür neben der Küche zu, an der ein Schild mit der Aufschrift „Personnel" hängt.

„Ach, und Adrien?", ruft Ming hinter mir, woraufhin ich mich noch einmal zu ihm umdrehe. „Lächeln nicht vergessen!"

Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, dass mir schon seit Monaten nicht wirklich zum Lachen zumute ist, sonst fragt er mich am Ende noch nach dem Grund dafür. Dumm nur, dass es eigentlich keinen gibt. Im Prinzip ist alles in Ordnung und normalerweise müsste ich rundum glücklich sein, aber ich bin es nicht. Warum auch immer.

Nachdem ich meinen Rucksack abgelegt und mir die obligatorische Schürze übergeworfen habe, beginne ich meine Schicht, indem ich anfange, die Bestellungen aufzunehmen. Eigentlich mag ich die Arbeit im Yin Yang. Es ist so eingerichtet, dass man sich direkt wohlfühlt: Die alten Ölgemälde an den Wänden und die karmesinroten Vorhänge, welche dieselbe Farbe haben wie die kunstvoll gefalteten Servietten, verströmen eine sehr gemütliche, warme Atmosphäre.

Seit einiger Zeit macht mir mein Nebenjob allerdings keinen Spaß mehr. Im Gegenteil – ich empfinde ihn nur noch als anstrengend, aber ihn aufzugeben, kommt dennoch nicht infrage. Schließlich haben Noel und ich uns darauf geeinigt, dass wir beide unseren Teil zur Miete beitragen und daran werde ich mich auch weiterhin halten, ob es mir nun gefällt oder nicht. Trotzdem fiebere ich von Beginn an dem Ende meiner Schicht entgegen, weil ich es kaum erwarten kann, nach Hause zu gehen und mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen.

Gegen 17:00 Uhr habe ich es endlich geschafft. Die letzten drei Stunden sind mir wie eine Ewigkeit vorgekommen. Ich lege meine Schürze ab und will gerade meine Sachen holen, als ich von Ming aufgehalten werde. „Die Fliesen in der Küche müssten noch geschrubbt werden", sagt er ungerührt, ohne eine Miene zu verziehen.

Mir fällt die Kinnlade runter, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?", platzt es lauter als nötig aus mir heraus und ich klinge beinahe verzweifelt. „Kann das nicht einer von den anderen machen?"

Im nächsten Moment wird mir klar, dass er mich hochgenommen hat – Mings zuckende Mundwinkel verraten ihn. „Komm runter, war doch nur 'n Witz", sagt er beschwichtigend und lächelt mich wohlwollend an. „Nimm's mir nicht übel, Adrien, aber du wirkst in letzter Zeit ziemlich unausgeglichen. Deswegen halte ich es für besser, wenn du jetzt nach Hause gehst und dich ein bisschen ausruhst."

„Schön, dass wir einer Meinung sind", entgegne ich und verabschiede mich von ihm, bevor das hier zu einer Art Deep Talk ausartet. Ich mag Ming, aber meine privaten Probleme werde ich sicher nicht mit meinem Chef besprechen.

Vom Restaurant aus kann ich problemlos zu Fuß nach Hause gehen. Es ist den ganzen Tag über nicht richtig hell geworden und inzwischen dämmert es bereits wieder. In der Sekunde, als ich das Ying Yang verlasse, fängt es außerdem erneut zu regnen an. Ich glaube, der Himmel will mich verarschen. Mit gesenktem Kopf stapfe ich durch die hereinbrechende Dunkelheit zu unserer Wohnung und weiche dabei den Pfützen aus, die in unregelmäßigen Abständen den nassen Bürgersteig sprenkeln.

Wie ein begossener Pudel komme ich wenig später zuhause an. Bemüht leise schließe ich die Wohnungstür auf und höre sofort gedämpfte Stimmen, die aus dem Wohnzimmer dringen. Offenbar ist Isabelle gerade zu Besuch, nachdem sie Noel ganze zwei Tage lang nicht gesehen hat. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass seine Freundin mehr Zeit bei uns verbringt als in ihrer eigenen Wohnung und es macht mir auch nichts aus, dass es nachts manchmal etwas lauter zugeht – ich kann ja ohnehin nicht schlafen.

Keiner der beiden scheint mich zu bemerken, aber das ist mir nur recht so. Wortlos ziehe ich mich in mein Zimmer zurück und zucke leicht zusammen, als ich Bibi bemerke, die es sich mitten auf meinem Bett gemütlich gemacht hat. Neugierig hebt sie den Kopf und begrüßt mich, indem sie ein freudiges Winseln hören lässt. Kaum habe ich mich neben sie gesetzt, stupst sie mich mit ihren Pfoten an und rollt sich auf den Rücken, damit ich ihren Bauch kraule. Ich tue ihr den Gefallen, obwohl ich mich am liebsten sofort aufs Ohr hauen würde. Wenigstens stellt Bibi keine Fragen. Das ist das Schöne an Tieren: Sie reden nicht, zumindest nicht so wie die Menschen.


J'ai besoin de toiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt