Cinq

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A D R I E N

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht stehe ich morgens in aller Herrgottsfrühe auf und schlüpfe in meine Sportklamotten. Am liebsten würde ich sofort joggen gehen, aber noch ist es draußen stockfinster und ich bevorzuge es nun mal, mich bei Tageslicht zu verausgaben. Nur dann spüre ich zumindest kurzzeitig einen belebenden Effekt. Dieser verschwindet jedoch in der Regel wieder, sobald es draußen dunkel wird, weshalb ich momentan versuche, so oft wie möglich tagsüber mein Sportprogramm durchzuziehen.

Es geht mir gar nicht so sehr darum, fit zu bleiben – viel mehr möchte ich den Kopf frei kriegen und wenigstens für ein paar Stunden auf andere Gedanken kommen. Leise, damit ich niemanden aufwecke, schleiche ich in die Küche und mache mir einen Kaffee. Aufs Frühstück verzichte ich, da ich ohnehin keinen Appetit habe. Meistens kann ich erst etwas essen, wenn ich vom Sport zurückkomme. Noel predigt mir immer wieder, dass das ungesund ist, aber ich überhöre seine Warnungen geflissentlich.

Unsere Kaffeemaschine ist schon etwas älter und nicht mehr die Zuverlässigste. Sie funktioniert zwar noch, aber manchmal braucht sie viel zu lange und gibt dabei auch noch äußerst merkwürdige Geräusche von sich. Heute hat sie offenbar einen schlechten Tag, denn sie rattert und gluckert so laut, dass es vermutlich bis nach draußen auf die Straße schallt. Bei dem Lärm wundert es mich überhaupt nicht, dass sich nach wenigen Minuten Noels Zimmertür öffnet und Isabelle im Flur erscheint.

Ihre dunkelblonden Haare sind zerzaust und sie trägt eins von Noels T-Shirts, das ihr mehr als nur ein paar Nummern zu groß ist. So laut wie die beiden letzte Nacht waren, muss es ein sehr intensives Wiedersehen gewesen sein. Ich habe mir irgendwann Kopfhörer aufgesetzt, weil ich mir einzelne Details ersparen wollte. Isabelle scheint zu ahnen, dass ich unfreiwillig Zeuge des nächtlichen Spektakels geworden bin, doch sie sagt nichts, sondern grinst nur verhalten.

„Coucou", begrüßt sie mich unschuldig und holt sich eine Tasse aus dem Schrank. „Bekomme ich auch einen Kaffee?"

„Klar, sobald er fertig ist", antworte ich achselzuckend, während sie mich von Kopf bis Fuß mustert, als sähe sie mich zum ersten Mal.

„Warum bist du eigentlich schon wach?", fragt sie und legt die Stirn in Falten. „Hast du heute nicht erst nachmittags Vorlesungen?"

„Weil ich nicht schlafen konnte", entgegne ich trocken, woraufhin ein schelmisches Grinsen über ihr Gesicht huscht. „Das mit den Vorlesungen stimmt zwar, aber ich wollte vorher Sport machen. Jetzt gleich, um genau zu sein."

„Verstehe." Isabelle stellt noch eine zweite Tasse bereit, füllt beide mit dampfendem Kaffee und reicht mir anschließend eine. „Sag mal, Adrien, geht's dir eigentlich gut?"

Irritiert ziehe ich eine Augenbraue hoch. Diese Frage habe ich nicht kommen sehen. „Bien sûr", erwidere ich nicht ganz wahrheitsgemäß und nippe an meinem Kaffee. „Wie kommst du darauf, dass es mir nicht gut gehen könnte?" Ganz einfach, du Trottel. Sie hat Augen im Kopf.

„Na ja ..." Noels Freundin zögert mit ihrer Antwort. Wahrscheinlich will sie mir nicht zu nahe treten. „Du wirkst irgendwie so unglücklich in letzter Zeit. Ich habe dich schon ewig nicht mehr lachen sehen und wenn du mal hier bist, versteckst du dich nur in deinem Zimmer. Noel macht sich auch schon Sorgen um dich."

„Nicht nötig", bemerke ich etwas schroff und vermeide es, ihr in die Augen zu sehen. „Macht euch keine Gedanken wegen mir. Tout va bien." Letzteres ist zwar gelogen, aber ich möchte nicht, dass meine Familie sich um mich sorgt. Das Einzige, was ich wirklich will, ist meine Ruhe.

„Sicher?" Isabelle mustert mich zweifelnd. Es ist nur allzu offensichtlich, dass sie mir meine Worte nicht abkauft. „Also, wenn du irgendwelche Probleme hast ..."

„Isa", unterbreche ich sie gereizt, wobei meine Stimme etwas lauter wird. „Hör bitte auf damit. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass ihr an mich denkt, aber tut mir einen Gefallen und lasst es einfach. Mir geht's gut, okay? Kümmer du dich lieber um deine Patienten im Krankenhaus, die haben's nötiger als ich."

Früher hat Isabelle Geowissenschaften studiert und nebenbei als Gogo-Tänzerin und Kellnerin gearbeitet, bis ihr eines Tages klar geworden ist, dass sie doch lieber Krankenschwester werden möchte. Mittlerweile befindet sie sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung und es ist nicht zu übersehen, wie sehr sie in ihrem Job aufgeht. Sie liebt es, anderen Menschen zu helfen – für meinen Geschmack übertreibt sie es jedoch manchmal mit ihrer Fürsorge.

„Wie du meinst", sagt sie pikiert und streut sich etwas Zucker in ihren Kaffee. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen, weshalb ich umso dankbarer bin, dass nur wenige Sekunden später mein Cousin zu uns stößt.

Gähnend kommt Noel ins Wohnzimmer getrottet, dicht gefolgt von Bibi, die ihrem Herrchen seit seiner Rückkehr aus Mailand nicht mehr von der Seite weicht. Seine schwarzen Haare sind völlig zerzaust, genau wie die seiner Freundin und er ist zum Glück angezogen, sodass mir sein halbnackter Anblick am Morgen erspart bleibt. Isabelles liebgemeintes Helfersyndrom ist schon belastend genug.

„Bon matin, mes amis", flötet Noel uns zur Begrüßung entgegen, gibt Isabelle einen Kuss und verpasst mir einen leichten Rippenstoß. „Alles klar bei euch?"

„Bei mir schon", antworte ich ungerührt, leere meine Tasse und wende mich zum Gehen. „Ich muss jetzt auch los. Vielleicht sieht man sich später noch, bevor ich zur Uni fahre."

„Warte!", werde ich von meinem Cousin aufgehalten, der mich liebenswürdig anlächelt. „Du gehst joggen, richtig? Dann macht's dir doch bestimmt nichts aus, Bibi mitzunehmen, oder? Isa und ich haben noch was anderes vor, wenn du verstehst."

Schon öffne ich den Mund, um zu protestieren, doch Noel ist schneller. „Merci, Adri, du bist ein Schatz", säuselt er und strubbelt mir durch die Locken, weil er ganz genau weiß, wie sehr ich das hasse. Hinter ihm versucht Isabelle gar nicht erst, sich das Grinsen zu verkneifen.

„Va chier", brumme ich zähneknirschend, gebe mich jedoch geschlagen und pfeife scharf durch die Zähne, damit Bibi zu mir kommt.

„Wir lieben dich auch, Adrien", erwidert Noel zuckersüß und während ich mitsamt Hund zur Haustür stapfe, winken er und Isabelle mir frech hinterher. Es ist doch immer wieder ein Fest, von der eigenen Familie verarscht zu werden.

Draußen ist es mittlerweile einigermaßen hell und zu meiner Erleichterung regnet es heute ausnahmsweise mal nicht. Dafür ist es ziemlich frisch, aber das macht mir nichts aus. Ich schaue zu Bibi runter, die aufgeregt hechelt und meinen Blick aus ihren treuherzigen Bernsteinaugen erwidert. Obwohl es meistens ziemlich anstrengend ist, mit ihr unterwegs zu sein – sie zerrt gerne an der Leine und bellt alles an, was sich bewegt – bin ich dennoch ein bisschen froh, sie bei mir zu haben. Immerhin leistet sie mir bereitwillig Gesellschaft, ohne mich dabei voll zu quatschen. Das rechne ich ihr hoch an.


J'ai besoin de toiWhere stories live. Discover now