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Hatsune Miku wachte auf.
Sie war in weißen Decken auf einem weißen Bett eingehüllt. Sie murmelte etwas im Halbschlaf, rollte aus dem Bett und landete etwas unsanft auf dem Boden. Sie stand auf, streckte sich und schaute in den Spiegel.
Sie war gewiss eine nicht so normale 14-jährige. Ihre Haare waren von Natur aus türkis, sie war unglaublich schlank und sie musste nicht zur Schule, wie jedes andere Mädchen in ihrem Alter. Sie wusste überhaupt nicht, woher sie kam und wer ihre Eltern waren. Darum machte sie sich aber keine Sorgen. Denn es gab Mei. Und Matoko. Sie waren so etwas wie Mutter und Vater für sie. Nun ja, abgesehen von der Tatsache dass sie nicht miteinander verheiratet waren.
Miku summte und band sich die türkisen Haare zu zwei Zöpfen zusammen. Danach wollte sie sich umziehen, aber bemerkte etwas Komisches in ihrem Kleiderschrank.
Alle Alltagsklamotten, die sie sonst immer trug, waren verschwunden. Es lag nur ein Outfit, glatt gebügelt und sorgsam zusammengefaltet, in der hintersten Ecke. Miku runzelte die Stirn und nahn es heraus.
Es bestand aus einem weißen Top, einer türkisen Krawatte, einem schwarzen Rock und schwarzen Strümpfen, die ihr bis zu den Knien gingen. Und dann waren noch zwei unförmige, schwarze Teile. Miku musterte sie. Was waren sie? Sie zog sich die Teile über ihre Arme. Passt doch. Mit einem eigenartigen Gefühl zog sie sich die anderen Sachen an und verließ ihr Zimmer.
Mikus Zimmer war ein offener Raum im Nichts. Es hatte Wände, aber keine Decke und auch keine Fenster. Es gab nur die nötigsten Möbel und ein En-suite-Badezimmer.
Das Nichts war einfach nur ein leerer Raum. Manchmal schwebten kleine Dreiecke darin herum, die man nicht berühren konnte. Miku mochte das Nichts, aber von da aus konnte sie Mei und Matoko nicht sehen. Manchmal wurden kleine Bilder von ihnen dort projiziert, mit denen sie reden konnte. Miku hatte mal Matoko gefragt, ob er und Mei in einer anderen Welt lebten. Matoko hatte geseufzt und ihr gesagt, dass er und Mei auch im Nichts leben würden, Miku sie aber nicht sehen konnte. Nicht sehr glaubwürdig. Sie ließ es aber durchgehen.
Mit diesen Gedanken ging sie heraus, die Tür hinter sich schließend.
"Und jetzt ist es Zeit für meine Lieblingsbeschäftigung!", rief sie ins Nichts.
Und dann fing sie an zu singen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, melodisch, nicht zu laut aber auch nicht zu leise. Sie spürte eine innere Freude in sich aufsteigen und sang immer kräftiger, lauter-
"Miku?"
Sie hörte abrupt auf und schaute sich um. Mei?
Und schon sah sie sie, ein kleines projiziertes Bild.
"Oh hallo Mei!", sagte sie, etwas aus der Puste. "Was führt dich hierhin?"
"Hi", sagte sie angespannt. "Ich... Ich wollte dir was sagen."
Miku blinzelte sie mit großen Augen an.
"Es ist nun so... Wo soll ich anfangen? Ach ja. Also. Es gibt eine andere Welt, Miku. Wusstest du das?" Sie redete ganz sanft und geduldig, als würde sie mit einem Kindergartenkind reden. Miku mochte das ganz und gar nicht.
"Ne", sagte Miku, "warst du schon einmal dort?"
"Ich-", fing Mei an. Stockte. Räusperte sich.
"Ich wohne dort, Miku, ich wohne dort."
Miku war wie gelähmt. Gedanken von Mei und Matoko schossen ihr durch den Kopf, wie sie sie ermutigt hatten, dass sie nicht im Nichts allein war. Dass sie immer da waren, obwohl sie sie nicht sehen konnte.
"I-Ihr habt m-mich die ganze Z-zeit angelogen? Ihr hattet eine schöne Zeit in eurer Welt und habt mich hiergelassen? W-wie?!" Wut durchflutete plötzlich ihren gesamten Körper.
"BRINGT MICH AUCH DAHIN!!", brüllte sie mit voller Kraft.
Mei ließ den Kopf hängen.
"Ich... kann dich nicht einfach dahinbringen." Sie seufzte und schüttelte den Kopf. "Du bist ein Computerprogramm. Ein Vocaloid. Die Menschen können Lieder schreiben und die Lieder, die Töne, den Text in dir eintragen. Dann musst du singen. Oder so in etwa. Ich muss nochmal den Manager fragen, wie das genau funktioniert."
Miku schniefte und zitterte vor Zorn.
"Ich will aber kein Vocaloid werden. Ich will immer noch Miku bleiben, wie früher. Warum. Geht. Das. Nicht?!"
"KAPIERST DU DAS DENN NICHT?!" platzte es aus Mei heraus. "Du bist ein Vocaloid, und es bleibt auch so. Du wurdest eigenständig dafür programmiert! Sieh mal. Matoko und ich, wir haben jahrelang getüftelt, um deine ersten 14 Lebensjahre etwas schöner zu machen! Aber es ist jetzt vorbei! Jetzt musst auch du deinen Zweck erfüllen! Und stell dir das einfach vor. Die Leute schreiben extra Lieder für dich, dass du sie singen kannst. An deiner Stelle würde ich mich geehrt fühlen, du undankbares Kind!"
Miku war ganz still. Sie wollte kein Computerprogramm oder was auch immer sein, dass die Leute einfach so benutzen konnten! Nur weil so ziemlich alles, was sie tat, vorprogrammiert war, hieß es doch nicht, dass sie eine Sklavin war, oder?
"Also Miku", sagte Mei kühl, aber wieder in einem ruhigen Tonfall, "du hast keine andere Wahl."
Sie tippte etwas auf ihrer Tastatur und schaute Miku an. Ihr Blick war so furchteinflößend, in-die-Seele-starrend, dass Miku leise blieb und auf dem Boden schaute.
Plötzlich wurde alles verschwommen, und das Letzte, was Miku sah, als sie hinaufschaute, war Meis etwas gezwungen aussehendes Lächeln.
Danach fiel sie in Ohnmacht.

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