Ein Tribut

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Ich gebe mir genau eine Sekunde um Luft zu holen. Dann beginnt meine Show.
Die Hungerspiele sind eine Fernsehershow. Die Leute wollen eine Performance sehen, das weiß ich. Also gebe ich sie ihnen.
Meine Augen suchen geziehlt die Kamera, die mich in der Menge ausfindig gemacht hat und ich schenke ganz Panem ein schiefes Grinsen. Dann schiebe ich mir meine Haare von der Schulter und gehe mit geziehlten Schritten auf das Podest zu. Ich erlaube es mir nur einen kleinen Augenblick, zu Finnick zu sehen und dieser kurze Moment hätte mein ganzes Schauspiel beinahe zerstört. Auf Finnicks Gesicht spiegelt sich blanke Angst. Seine Unterlippe zittert und in seinen Augen glänzen Tränen. Ich schaue weg und hefte meinen Blick auf den Papagei.
Ein Grenzwächter weißt mir den Weg zur Treppe an der Seite des Podiums und ich gehe hinauf. Ganz begeistert kommt der Papagei auf mich zugehüpft und schüttelt mir die Hand. Ich lächle ihn breit an. Er lässt meine Hand nicht los und zeiht mich vor das Mikrophon.
"Was für eine Überraschung!", trällert er, "Einen Applaus für Alyssa Odair!"
Die Leute klatschen nicht einmal halb so begeistert wie der Papagei. Ich verbeuge mich und senke dabei den Kopf. Während ich mich langsam aufrichtet, halte ich Blickkontakt mit der Kamera und lächle sie selbstbewusst an.
Irgendwie hatte ich es im Gefühl, dass ich eines Tages auf dieser Bühne stehen würde. Ich hatte vor meinem Spiegel verschiedene Posen und Blicke geübt, deswegen weiß ich ganz genau, wie welcher Gesichtsausdruck und welche Handbewegung wirkt.
Ich bin mit meinem ersten Auftritt zufrieden.
Der Papagei zieht noch einen Jungen: Clyde Thornton. Einer aus der Gruppe Freiwilliger. Er grinst und reißt triumphierend die Faust in dir Luft. Seine Freunde klatschen ihm auf die Schulter und beglückwünschen ihn.
Ich beobachte ihn mit hochgezogener Augenbraue. Sie beglückwünschen ihn zum Sterben.
Es gibt nur eine Person, die lebend die Arena verlassen wird und das werde ich sein. Es kann gut sein, dass ich diesen Jungen töten werde.
Clyde kommt auf die Bühne, holt sich seinen Applaus ab und reicht mir grinsend die Hand. Während wir unsere Hände schütteln, halte ich eiskalt seinem Blick stand.
In ein paar Wochen wirst du tot sein.

Ein Friedenswächter führt uns ins Rathaus. Dort werde ich in ein Zimmer geführt und man gibt mir eine halbe Stunde Zeit um mich zu verabschieden. Meine Mutter kommt herein und schluchzt laut auf.
"Mein Mädchen", seufzt sie leise, "Wieso muss es denn gerade meine beiden Kinder treffen?"
Sie zieht mich in ihre Arme.
"Du musst gewinnen!", flüstert sie, "Finnick wird so viel für dich tun, wie nur möglich und du hast dein Leben lang trainiert. Du kannst das schaffen."
Ich nicke nur und atme tief durch. Ich will immer noch nicht weinen. Ich darf nicht weinen. Ich drücke die Hand meiner Mutter um mir Halt zu geben.
"Ich glaube ganz fest an dich", sagt sie und streichelt mir über die Wange. Ich lächle. Ein echtes Lächeln.
"Ich werde zurückkommen", sage ich, "Versprochen."
Mutter sieht mich an und in ihrem Blick liegen Stolz und Liebe.
"Das weiß ich, mein Herz", sagt sie, "Wenn es irgendjemand schafft, dann du. Höre auf das, was dir dein Bruder sagt und sei vorsichtig."
"Werde ich, Mama", sage ich.
Mutter zieht mich in eine Umarmung. Ich halte sie fest und will sie nie mehr loslassen, doch ich muss. Als der Friedenswächter an die Tür klopft, halte ich noch einmal Mutters Hand fest. Sie drückt meine Hand schweigend und geht dann.
Zwei Minuten später kommt Annie herein. Sie setzt sich leise neben mich und nimmt meine Hand.
Annie ist eine gute Freundin. Sie ist lieb und hilfsbereit und ruhig. Ihre Spiele hat sie mit mehr Glück als Verstand gewonnen und sie haben sie sehr mitgenommen. Seitdem sagt sie noch weniger als vorher, doch jetzt spricht sie leise: "Wenn ich es geschafft habe, dann schaffst du es auch. Alyssa, du bist eine Kämpferin, wie dein Bruder. Du wirst gewinnen."
"Danke, Annie", sage ich, "Kommst du nicht mit ins Kapitol?", frage ich.
"Finnick meint, es ist zu viel für mich. Ihm ist es lieber, wenn ich hier bleibe."
Ich nicke. Ich weiß nicht, was im Kapitol passiert, doch so wie Finnick nach seinen Aufenthalten dort zurück kommt, bin ich mir sicher, dass die zarte Annie daran zu bruch gehen würde.
Wir sagen nichts mehr und als die halbe Stunde um ist, geht Annie nach draußen.

Am Bahnhof stehen massenweiße Kameras und Zuschauer. Es erinnert mich an den Tag, als Finnick zurück gekommen ist. Doch nun bin ich es, die im Rampenlicht steht.
Es gefällt mir nicht.
Ich bleibe in der Rolle, die ich auf der Bühne eingenommen hatte: selbstsicher und aufgeschlossen.
Ich muss eine Ewigkeit neben Clyde in der Zugtür stehen, dann dürfen wir hinein.
"Wir zwei also in den Spielen", sagte Clyde und grinste abzüglich. Er ist ein Jahr älter als ich, größer und breiter.
Ich grinse nicht. In der Sekunde, als die Zugtür sich vor mir geschlossen hat, ist jede Spur eines Lächelns aus meinem Gesicht verschwunden.
Mein Blick ist eiskalt.
"Du meinst wohl eher 'Du und 22 Andere zwischen mir und meinem Sieg'", sage ich.
Sein Grinsen versteift sich und er hebt die Hände.
"Woah, komm runter, noch sind wir nicht in der Arena", sagt er.
"Ach nein? Was meinst du, was die Spiele sind? Die Spiele haben gerade eben begonnen, als unsere Namen gefallen sind. Du kannst dir jede Form von Freundlichkeit und Schmeichelei sparen. Ich gehe in diese Arena, um zu gewinnen. Du bist in meinem Weg. Denke ja nicht, dass ich dich verschonen werde, nur weil du aus dem gleichen Distrikt kommst, wie ich. Es wird nur eine Person geben, die die Spiele gewinnt und das werde ich sein. Wenn du noch nicht verstanden hast, wie die Spiele funktioniert, dann ist es höchste Zeit aufzuwachen. Fröhliche Hungerspiele."
Ich gehe weg und frage einen Diener, wo mein Zimmer ist. Er führt mich hin und sagt mir, das ich ihn jederzeit um Hilfe bitten könne und das er sich freue, wieder eine Odair bedienen zu können.

Die Tür schließt sich von selbst hinter ihm und ich verriegle sie. Eine Welle an Emotionen überrennt mich. Ich setzte mich auf den Boden und lehne mich gegen das kalte Metal der Tür. Jetzt bin ich alleine.
Jetzt kommen die Tränen.

Games of the Sea (Tribute von Panem ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt