Kapitel 7 - Wahn versus Realität

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"Liam?"
"Hm?"
"Wie sehr glaubst du, kann man jemanden vermissen?"
"Ich glaube so sehr, dass man sich selbst zerreißen kann...", murmelte Liam und sah Louis vorsichtig von der Seite an.
"Und wie gut können wohl Illusionen oder Wahnvorstellungen sein?"
"Willst du mir irgendwas sagen?"
"Ich weiß nicht."
"Hast du Wahnvorstellungen?"
"Ich weiß nicht."
"Was weißt du denn?"
"Dass ich Harry unendlich doll vermisse... Du auch?"
"Schon... Aber er war eben nicht mein Partner....", murmelte Liam und wich Louis' Blick etwas aus. Aber wie immer dachte der sich nichts dabei. Er hatte viel gegoogelt. Über Wahnvorstellungen. Theoretisch könnte der Harry wohl eine sein. Wahnvorstellungen würden schließlich keinen Wahn auslösen können, wenn sie nicht überzeugend wären. Louis hatte von einem Mann gelesen, der sich von einer Blaskapelle verfolgt gefühlt hatte. Der mochte Blasmusik und hatte sich nie gestört gefühlt. Aber dann hatten sie ihm irgenwann Mordgedanken ins Ohr geflüstert. Sehr überzeugend. Der Mann war direkt zum Arzt gelaufen und hatte Medikamente bekommen. Er nahm sie nur halb, damit er die Blasmusik hören konnte und war dafür im Netz stark kritisiert worden. Ein User hatte vorgeschlagen, er solle sich eben ein IPod kaufen und da Blasmusik drüber hören.

Allgemein wurde man ja Recht schnell nervös, wenn man Sachen hörte oder sah, die andere nicht hörten oder sahen. Oder die anderen wurden nervös, wenn man dazu allzu offen stand. So auch Liam jetzt. Louis glaubte, es würden sich mehr Menschen ärztliche Hilfe holen, wäre das nicht alles so fürchterlich stigmatisierend. Allein die Tatsache, dass einem an einer Grippe in der Regel niemand die Schuld gab, man bei Depressionen aber in Erklärungsnot geriet, zeigten doch ein eindeutiges und ausgesprochen krankes Bild.

Louis wäre durchaus bereit sich Hilfe zu holen. Wie der Mann mit der Blaskapelle. Musik hören - super. Mordbefehle ins Ohr geflüstert bekommen - ungünstig. Oder in Louis' Fall: Harry auf der Bettkante - super. Harry... Ja das war das Problem oder eben genau das nicht. Er hatte Louis nichts getan. Er hatte ihn zu nichts aufgefordert. Er hatte nur nicht so ganz verstanden, warum Louis keine Angst hatte. Louis beschäftigte es, zugegebenermaßen schon ein bisschen, dass seine Wahnvorstellungen reflektierter waren als er selbst. Vielleicht könnte er sie beim nächsten Mal einfach direkt fragen, was sie so wollte? Hätte sie eine andere Gestalt, wäre Louis sehr beunruhigt. Aber so... Genoss er diesen Schatten von Harry, wie der Mann mit der Blaskapelle eben jene. Der würde sich bestimmt auch mehr gestört fühlen, käme HipHop oder sowas.  Solange der Wahn einem gefiel empfand man ihn offenbar nicht als Leiden. Das war doch auch Mal eine Erkenntnis. Krank und Spaß dabei, dachte Louis selbstironisch.

Liam machte sich jetzte erstmal eine Runde Sorgen und Louis bereute sofort, etwas gesagt zu haben. Vielleicht sollte er langsam nach Hause gehen. Es war schon nach zwei Uhr in der Nacht.

"Ich sollte langsam gehen.", sprach er seinen Gedanken laut aus.
"Quatsch. Du kannst gern im Gästezimmer schlafen."
"Nein, geht schon. So weit ist es ja nicht.*
"Louis, ich möchte dich nicht gern nachts allein-"
"Harry wurde umgebracht, weil er am helllichten Tag einkaufen war."
"Ich weiß... Deswegen sollte man sein Schicksal trotzdem nicht heraus fordern."
"Tue ich nicht. Ich gehe nur nach Hause... Nur die Hauptstraßen. Keine Sorge.", brummte Louis und stand auf.
"Wir könnten morgen zusammen frühstücken. Bei Novotnys mit den leckeren Croissants.", schlug Liam vor.

"Können wir machen. Schick mir die Zeit und ich bin da.", erklärte Louis und zog sich seine Schuhe an.
"Du willst echt noch los?"
"Liam, ich bin schon groß. Schlaf gut.", erklärte Louis, umarmte seinen besten Freund und verließ dessen Wohnung.

Es war so warm, dass man keine Jacke brauchte.
Louis war brav. Er ging die ganze Zeit auf viel frequentierten Wegen entlang. Nahm nicht die Abkürzung durch den Park oder sowas.

Dennoch hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden. Dieses Kribbeln im Nacken und das Bedürfnis loszulaufen, auch wenn man nicht wusste, ob und wenn ja was da war. Dieses gehetzte Gefühl, gegen dass man sich nicht wirklich wehren konnte. Jeder Schatten schien ein Mensch zu sein und Louis überlegte, warum er sich nicht einfach ein Taxi bestellt hatte.

Schneller als jemals bisher, kam er verschwitzt und völlig aus der Puste zu Hause an. Er schrieb Liam noch, dass er angekommens sei und streifte sich die Kleidung vom Körper, während er sehr routiniert über die Sportschuhe im Flur stieg. Er brauchte jetzt dringend eine Dusche.

Schnell sprang er unter das warme Wasser. Sonst war er nicht so schreckhaft und ängstlich. Aber er hatte das extreme Gefühl gehabt, beobachtet worden zu sein. Er hatte sich gefühlt wie eine Beute...

Nachdem er mit einem Badetuch bekleidet war, hatte er sich einigermaßen beruhigt. Dennoch kochte er sich noch einen Tee. Türkischer Apfel. Den liebte er.

Er saß am Küchentisch und wartete darauf, dass das Wasser endlich kochte, hatte den Kopf auf den verschränkten Unterarmen abgestützt und interviewte sich in seinem Kopf selbst, um sich weiter zu beruhigen, als er einen Lufthauch spürte.
Er hob den Kopf und da stand er. Im Türrahmen. Und er war genau so schön, wie Louis ihn in Erinnerung hatte.

"Du solltest nicht Nachts allein herum rennen.", sprach er langsam.
"Du bist eine sehr nette Wahnvorstellung... dieses Mal musste ich nicht einmal vorher schlafen. Und du warnst mich... Ich hab viel gelesen. Eigentlich hat man Angst... Und dann entwickelt sich die Wahnvorstellung. Aber es geht wohl auch anders... Ich habe keine Angst vor dir."
"Lou... Ich bin keine Wahnvorstellung."
"Was könntest du sonst sein?"
"Ich bin echt..."
"Das würde ich mir so sehr wünschen..."
"Bei einer Wahnvorstellung würdest du nicht drüber nachdenken, ob es eine Wahnvorstellung ist. Du würdest es als Realität wahrnehmen und es vor anderen verteidigen. Hör zu... Ich will nicht, dass du so spät in der Nacht draußen herum rennst... Es ist gefährlich, okay?"
"Du bist nachmittags beim Einkaufen überfallen worden. Es kann einem immer und überall was passieren."
"Wieso nur musst du immer wiedersprechen?", knurrte Harry.
"Du bist eine Erinnerung aus meinem. Kopf. Ich schätze, ich vermisse es einfach zu sehr, mit dir zu diskutieren...", flüsterte Louis und trat zum Wasserkocher. Füllte seine kleine Teekanne mit dem gekochten Wasser.

"Ich erwarte, dass du nicht mehr nachts raus gehst...", knurrte Harry.
Louis sah ihn nur an.

"Ich will dass du in Sicherheit bist. Ich will her kommen und nach dir sehen können. Wie du ein glückliches Leben führst und irgendwann als alter Mann friedlich stirbst. Hörst du?", fragte Harry und knurrte noch immer unterschwellig.

"Die ganze Zeit werde ich mich an dich erinnern und immer wieder werde ich versuchen, dich vor mir zu sehen..."
"Ich bin echt... "
"Beweis es."
"Wie?"
"Ich weiß es nicht."

Konnte eine Wahnvorstellung einen küssen? Konnte sie einen in eine kalte Umarmung schließen? Von jetzt auf gleich? Konnte sie knurren und fauchen? Konnte sie die Augenfarbe von grün auf schwarz wechseln, einen von sich stoßen und direkt wieder verschwinden? Louis wusste es nicht. Aber Harry konnte ganz offensichtlich alles davon.

Tja... Gar nicht so leicht für Louis...
Bis dann.
Viele Grüße ^⁠_⁠^

Bloody Love - wird fortgeführt auf StorybanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt