5. Facetten

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In den kommenden Wochen stellte ich fest, dass Luke völlig anders war als ich.

Eigentlich hatten wir nur Eines gemeinsam. Die Leidenschaft zur Kunst. Doch auch in diesem Punkt unterschieden wir uns irgendwie. Wir drückten 'Kunst' unterschiedlich aus.
Während meine Kunst die Musik war, bestand seine aus Farben auf Leinwänden.

Er hatte mir einige seiner aktuellen Werke gezeigt, die Teil einer Serie waren, die er in der kommenden Ausstellung präsentieren wollte. Ehrlicherweise war ich ausgesprochen überrascht über das, was ich zu sehen bekam.

Es war ein kühler Abend und gemeinsam standen wir auf seiner Veranda, während er mal wieder eine Zigarette aus der Schachtel nahm und sie mit seinem blauen Feuerzeug anzündete. Der Qualm verflog gemeinsam mit einem leichten Windhauch, der seine Haare durcheinander brachte.

"Wieso arbeitest du eigentlich in einer Galerie, wenn du eher der musikalische Typ bist", fragte er mich, nahm einen Zug seiner Zigarette und sah mich undefinierbar an. "Ich denke, dass Kunst und Musik unmittelbar zusammenhängen. Die Stimmung, die ein Gemälde hervorruft hat im Unterbewusstsein auch immer irgendeinen Klang oder ein Geräusch aus dem eine Melodie entstehen kann, die das Visuelle begleitet. Als Musiker ist es wie in eine andere Welt zu schauen, wenn man Gemälde betrachtet. Man sieht alles aus einer neuen Perspektive". Luke sah mich eine Weile still an. Ich konnte nicht sagen, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf ging oder was sein Blick bedeutete. Ob die Antwort für ihn keinen Sinn ergab oder er mit etwas völlig anderem gerechnet hatte. Jedenfalls schien er ziemlich in Gedanken versunken zu sein und warf irgendwann seine Zigarette in den Aschenbecher.

Luke schwieg oft. Ich wusste nicht woran das lag, ob es einfach seine Art war, ob er schüchtern war oder sich einfach nicht gerne mit mir unterhielt. Mir machte das nichts aus, immerhin war die Stille nicht unangenehm oder erdrückend. Sie war einfach da und wir akzeptierten sie als Teil unserer Kommunikation.

"Warum malst du immer wieder die Küste in so unterschiedlichen Facetten?", stellte ich ihm dieses mal eine Frage. Die Gemälde, die er mir bisher gezeigt hatte waren alle irgendwie gleich und dennoch waren sie grundlegend unterschiedlich.

Seine Kunst war abstrakt. Nicht zu vergleichen mit den detaillierten Fotogemälden von Leyla. Doch trotzdem erkanntest du ein bestimmtes Motiv, das sich durch jedes seiner Gemälde zog.
Die Küste, den Ozean, den weiten Horizont. Diese Szenerie stellte er in allen verschiedenen Arten und Farben dar. Mal wirkte sie ruhig, dann stürmisch, mal leblos, dann voller Energie. Und dann wiederum spürtest du eine einsame Kälte, die sich zeitgleich auf deine Haut legte. Mir kam es vor, als hätten seine Gemälde eine Autonomie und dann nahmen sie dich mit auf eine Reise der Gefühle.

"Weil die Küste eben immer unterschiedliche Facetten hat", gab er plump von sich und sah mich an, als hätte er den Sinn meiner Frage nicht verstanden. Manchmal fragte ich mich, ob er das mit Absicht machte. Seine Antworten auf bestimmte Fragen konnten wirklich zermürbend sein. Insgeheim vermutete ich allerdings, dass er sich dessen wirklich nicht bewusst war und vermutlich ging er davon aus, dass seine Antworten ernsthaft hilfreich waren. Ich überlegte, ob ich nochmal nachfragen sollte, entschied mich dann jedoch dagegen. Luke sah mich an, für einen wirklich kurzen Moment hatte es den Anschein, dass er mir meine Gedanken von den Lippen lesen könne und dann fing er tatsächlich an zu sprechen.

"Ich bin fast jeden Tag an der Küste. Jeden Tag sieht es dort anders aus. Jeden Tag entdeckst du etwas neues oder fühlst etwas anderes als die Male davor. Ich glaube das Spannende ist, dass du nie weißt, was das Meer heute mit sich bringt", dann hörte er plötzlich zu reden auf und drückte sich von der Veranda. "Willst du auch eine?", fragte er, während er mir die Schachtel Zigaretten hinhielt und sich selbst noch eine Zweite raus holte. Ich lehnte kopfschüttelnd ab. Für einige Minuten sah ich ihm dabei zu, wie er immer wieder den Rauch der Zigarette einatmete. Mir wurde allmählich kalt. Meinen Mantel hatte ich oben in meiner Wohnung liegen lassen. Doch Luke, der selbst nur ein T-shirt trug, schien die Kälte nicht zu stören, zu fokussiert war er auf die Zigarette in seiner Hand und den Rauch der in blassen Schwaden vom Wind fortgetragen wurde.

"Ich denke, ich gehe mal zurück zu meiner Wohnung, Luke. Wir sehen uns", wollte ich mich verabschieden, wurde jedoch mit einem erstaunlich starken Griff an meinem Arm festgehalten. Verwirrt drehte ich mich zu Luke, der gerade eine Rauchwolke ausatmete und auf mich runter sah. Auch wenn er mit seinen 22 Jahren vier Jahre jünger war als ich, war er dennoch etwas größer. Eigentlich spielte das auch keine Rolle, doch gerade war ich überrascht darüber, wie klein ich mir vorkam.

"Ich hole dich morgen früh um halb 6 ab. Ich möchte dir etwas zeigen", erklärte er mir und ließ danach meinen Arm wieder los. Fragend schaute ich ihn an, nickte ihm dann jedoch einverstanden zu und verließ seine Veranda. Langsamen Schrittes lief ich auf die Haustür zu. Angekommen legte ich die Hand auf die Klinke, hielt dann doch kurz inne und drehte mich noch einmal zu Luke um. Auch er stand noch immer dort auf seiner Veranda mit der Zigarette in der Hand.
Unsere Blicke trafen sich und für einige Sekunden sah ich in ihm nicht den schweigsamen Luke, den ich kenngelernt hatte, sondern einen Mann, der eine merkwürdige Art an sich hatte, die ich verstehen wollte.

𝐒𝐲𝐦𝐩𝐡𝐨𝐧𝐢𝐞 𝐝𝐞𝐬 𝐋𝐞𝐛𝐞𝐧𝐬Donde viven las historias. Descúbrelo ahora