Drosselbart II

105 12 1
                                    

"Sie dürfen den Bräutigam nun küssen."

Nie im Leben hätte ich gedacht, dass dieser Satz einmal Angstschweiß bei mir auslösen würde. Aber hier stehe ich jetzt, in einem der Besprechungsräume des Firmengebäudes, hinter mir mein Vater, rechts von mir ein fremder Priester und mir gegenüber Étienne, der mir gerade einen goldenen Ehering an den Finger gesteckt und ewige Treue geschworen hat.

Den Blick fest auf seine breite Brust gerichtet lasse ich zu, dass mein Ehemann mir eine Hand an die Wange legt und mich langsam näher zu sich heranzieht. Als ich jedoch nicht reagiere, hält er inne, bevor unsere Lippen sich berühren können.

"Laurent?"

Seine leise, raue Stimme lässt mich dann doch aufsehen, sodass ich direkt in seine braunen Augen starre, die mich fragend anblicken. Ich habe durchaus keinen hässlichen Ehemann, stelle ich fest, aber alles an dem Gedanken, mit einem Straßenmusiker zusammenleben zu müssen, um meine Zukunft behalten zu können, stößt mir auf. Fühlt sich an wie ein Handel und noch dazu einer, in dem ich die Ware bin.

Trotzig recke ich das Kinn vor und überbrücke den verbleibenden Abstand, bis unsere Lippen sich treffen. Eigentlich sollte es ein kurzer, grober Kuss werden, mit dem ich ihn irritieren wollte, aber Étienne nimmt mir alle Luft aus den Segeln, als seine weichen Lippen meine mit einer Zärtlichkeit umspielen, die mich erschaudern lässt.

Als er sich nach einigen Augenblicken von mir löst, geht mein Atem schneller und es kostet mich einige Mühe, das zu verstecken. Die Blöße werde ich mir sicher nicht geben. Étiennes wissender Blick brennt sich währenddessen sehr deutlich spürbar in meine Schläfe.

Fantastique.

Mein Vater wendet sich mir nun zu, nachdem die Hauruck-Vermählung vorbei ist.

"Laurent, ich wünsche dir wirklich, dass du fürs Leben lernst und glücklich wirst. Und ich hoffe, du machst Étiennes Leben nicht noch schwerer. Beschäme mich nicht, Sohn."

Seine Worte schmerzen, weshalb ich einfach die Zähne zusammenbeiße, mein Jacket greife und den Raum verlasse, ohne mich noch einmal umzudrehen. Mein Mann folgt mir und will mich mit einer Hand am unteren Rücken zum Fahrstuhl geleiten, was ich ihm aber mit einem scharfen Blick sofort austreibe.

Ganz sicher nicht, mon amour.

Schweigend verlassen wir das Gebäude und Étienne führt mich durch die Stadt, bis wir nach etwa dreißig Minuten einen schlichten Wohnungskomplex erreichen.

„Da sind wir", meint er mit einem schiefen Lächeln, als er meine hochgezogenen Augenbrauen sieht. Es ist nicht so, dass ich ein verwöhntes, reiches Kind bin, aber... ich bin ein verwöhntes, reiches Kind.

Trotzdem macht mir der unsichere Glanz in den braunen Augen meines Mannes ein schlechtes Gewissen, sodass ich die Klappe halte. Ich zwinge mich, sein Lächeln wenigstens ansatzweise zu erwidern und bedeute ihm, voranzugehen.

Tief durchatmend straffe ich die Schultern. Okay, wir wohnen in einer kleinen Wohnung in einem Viertel, das ich vorher (aus gutem Grund) noch nie betreten habe. Na und?

Nachdem wir eine kleine Treppe in den ersten Stock hochgestiegen sind, führt Étienne mich einen Gang mit mehreren grauen Wohnungstüren entlang, bis er vor der letzten stehenbleibt.

Was mich dahinter erwartet, schockiert mich ehrlich. Die Wohnung ist winzig, besteht gerade einmal aus einem Raum, der es irgendwie schafft, Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer auf einmal zu sein und hat sonst nur eine Tür, die wahrscheinlich zu einem ebenso kleinen Bad führt.

„Fühl dich wie zuhause", murmelt Étienne, bevor er seinen Violinkoffer abstellt und sich eine Flasche Wasser vom Küchentresen nimmt. Er will mir auch eine anbieten, aber ich winke ab.

Waves - Oneshots BoyxBoyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt