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Es war bereits dunkel, die Sonne war vor wenigen Minuten ganz untergegangen. Trotzdem war es noch drückend warm und Mücken surrten durch die warme Luft. In diesem Teil des Dorfes hielt sich nicht oft ein Assassine auf, schon gar nicht ihr Großmeister. Doch an diesem Abend hatte er einen Grund, hierher zu kommen. Er wollte seine Trauer über den Verlust Marias, den er schon seit ein paar Tagen hegte und der sein Herz zerfraß, in ein paar Krügen guten Weins ertränken. Er hatte sich hinausgeschlichen aus der Festung. Was sollten die Assassinen denken, wenn sie merkten, wohin ihn sein Weg an diesem Abend führte? Besonders Abbas, der immer ein misstrauisches Auge auf ihn hatte.
Die Gebäude, die hier aneinandergereiht waren, waren nur noch Ställe, verlassene Hütten und vor allem Bordelle und Schenken oder Gasthäuser. Aus den Häusern drangen laute Geräusche, die Fenster waren meist hell erleuchtet. Der Assassine zog seine wie ein Adlerkopf geformte Kapuze tiefer ins Gesicht. Wenn man ihn hier erkannte... Aber es was sollte er ohne Maria tun? Sie war ihm stets eine große Hilfe gewesen. Was in aller Welt hatte sie dazu gebracht, zurück nach England zu reisen? Sie hatte doch dort nichts... Oder doch? Hatte sie ihn täglich angelogen seit sie sich begegnet waren? Mit einem leisen Seufzer steuerte er eine der Tavernen an und wollte gerade die Tür öffnen, als er aus dem Augenwinkel einen Schatten sah, der in die dunkle Gasse flüchtete. Dank seines geübten Blicks erkannte er eine schmale Gestalt, die in die Gasse rannte, stolperte und fiel. Wer war das? Ein Räuber? Ein Betrunkener? Oder doch ein besonders ungeschickter Templer? Der Assassine lächelte in sich hinein. Die plötzliche Neugier besiegte seinen Kummer. Leise schlich er in die enge Gasse hinein, wie er es gelernt hatte. Die Geräusche klangen hier gedämpfter. Er spitzte seine Ohren. Er hörte ein Schluchzen. Es klang wie ein junges Mädchen. Oder sogar wie eine Frau? Als er näher kam wurde es immer dunkler und er sah kaum die eigenen Hände. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse hier. Eine junge Frau, sie mochte kaum jünger sein als Maria, saß mit angezogenen Beinen auf dem dreckigen Boden. Sie weinte leise und schien sich verletzt zu haben. Der Assassine verfluchte sich für seinen Vergleich mit Maria. Er ging neben dem Mädchen in die Hocke. "Was ist passiert?", fragte er mit gesenkter Stimme und musterte sein Gegenüber gleichermaßen wachsam wie besorgt. Das Mädchen sah auf. Ihre Haare glänzten kurz, als der Schein einer Laterne durch die Gasse wanderte, in einem bräunlich-goldenen Ton auf. Ihre olivgrünen Augen sahen ihn erschrocken und verunsichert an. "W-wer bist du?", fragte sie mit zitternder Stimme. Es gab nicht viele Leute, die ihn nicht kannten. "Altaïr. Altaïr Ibn-La'Ahad. Kann ich dir helfen?", wiederholte der Assassine seine Frage nun und legte den Kopf schief. Nun bekam das Mädchen große Augen. "Der Altaïr?", hakte sie nach und ihre Stimme zitterte nicht mehr so sehr wie zuvor. Er nickte und musterte ihre Beine. Eines war voller Blut und ihre dunkle Kleidung war dort aufgerissen. Es sah nach einem unangenehmen Schnitt aus. Würde er nicht bald behandelt werden könnte er sich entzünden. Er zog seine Kapuze ab, da es sowieso dunkel war. Während sein Gegenüber ihn mit großen Augen beobachtete und die Wunde anscheinend längst wieder vergessen hatte, kümmerte sich Altaïr um ihr Bein. Er entknotete das rote Band an seinem Gürtel und wickelte es um das verletzte Bein. Das musste vorerst reichen. Was hatte er nun eigentlich vor? Sollte er sie zu einem Arzt im Dorf bringen? Letztendlich entschied er sich für 'Ja' und fragte das Mädchen, ob es laufen könne. Sie schüttelte den Kopf. "Ich habe es versucht. Aber es geht nicht... Es tut zu sehr weh." Sie sah ihn mit wehmütigem Blick an, und so bot Altaïr an, sie zu tragen. Seufzend griff er unter ihre Arme und unter ihre Kniekehlen, um sie so hochzuheben. "Alles klar?", fragte der Assassine mit zusammengebissenen Zähnen. Das Mädchen nickte stumm. Der nächste Arzt hatte sein Haus einige Schritte entfernt, sodass Altaïr seine ganzen Kräfte aufbringen musste. Sicher, sie war nicht schwer und er war trainiert, aber eine Person zu tragen war etwas anderes als zu kämpfen. Sie schwieg die ganze Zeit über bis sie am Haus ankamen und sie etwas unruhig wurde. Altaïr setzte sie vorsichtig ab und klopfte. Dann sah er sie fragend an. "Was ist? Warst du noch nie bei einem Arzt?", wollte er wissen und schmunzelte etwas. Sie zog wieder die Beine eng an den Körper an, lehnte sich an die Hauswand und fing an, zu zittern, obwohl es immer noch angenehm warm war. "Ich habe kein Geld", murmelte sie beschämt und sah zu Boden. Der Assassine grinste nun und die Tür öffnete sich endlich. Ein älterer Herr öffnete die Tür. Er war schlank, klein gewachsen und hatte bereits graue Haare. Mit klugen, grau-grünen Augen musterte er sein mindestens ein, zwei Köpfe größeres Gegenüber. Ein Lächeln bildete sich auf dem faltigen Gesicht des Arztes. "Meister Altaïr! Was wollt ihr hier?" Der Mann musterte den Assassinen von oben bis unten. "Ich sehe kein Blut..." Altaïr deutete auf die junge Frau, die schweigend den Arzt ansah. "Dieses Mal geht es nicht um mich. Die junge Dame hat sich verletzt", erklärte er und mit einem weiteren Blick auf die Verletzte ergänzte er: "Ich bezahle die Behandlung" Als sich ihre Augen dankbar und ungläubig weiteten lächelte er nur, half ihr auf und lief mit dem Arzt zurück in dessen Haus. Die Untersuchung dauerte nicht lang. Der Arzt säuberte die Wunde, desinfizierte und verband sie. Dann gab Altaïr ihm das versprochene Geld und stützte das Mädchen, indem er einen Arm um sie legte. Sie hüpfte auf einem Bein neben dem Assassinen her, der sich noch freundlich verabschiedete und dann an die junge Frau wandte. "Wie heißt du eigentlich?" Sie sah ihn mit großen Augen an. "Warum habt Ihr für mich bezahlt?", erwiderte sie ohne zu antworten. Der Assassine lächelte sanft und half ihr zu einer Bank, damit sie sich setzen konnte. Er lief ein Stück weiter, schöpfte Wasser aus dem nahe gelegenen Brunnen und brachte ihr einen Krug Wasser. Dankbar nahm sie ihn und trank ihn in einem Zug leer. "Weil ich unschuldige Leute nicht gern blutend in einer Gasse sitzen lassen", antwortete er und hoffte, dass er trotzdem bald die Antwort auf seine Frage finden würde. Ihr Blick wurde glasig während sie mit beiden Händen den Krug umklammerte. "Wer sagt Euch dass ich unschuldig bin?", antwortete sie nun wieder mit einer Gegenfrage und richtete ihre grünen Augen auf den Assassinen. "Das lese ich in Euren Augen", sagte Altaïr mit amüsierter Stimme und setzte sich nun neben sie auf die Bank. Sie seufzte. Wollte sie andeuten, sie hatte schon einmal etwas getan, was ihre Unschuld vergehen ließ? Er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. "Wohin soll ich Euch bringen?" Er sah sie prüfend an und nahm ihr den Krug mit vorsichtigen, spitzen Fingern aus den Händen. Sie zuckte zusammen als hätte er in ihre Wunde gefasst. "I-ich... weiß nicht...", stotterte sie unsicher und schlang ihre Arme um ihren Oberkörper. Altaïr dachte nach. "Wo wohnen deine Eltern?"
"Ich habe keine Eltern mehr..."
"Hast du wirklich keinen Ort, wo du hin könntest?"
Sie schüttelte mit einem bitteren Ausdruck im Gesicht den Kopf. "Meine nächsten Verwandten wohnen mehrere Monate von hier entfernt." Altaïr legte nachdenklich den Kopf in den Nacken und ließ seine Gedanken hinauf zu den Sternen wandern, wie er es nachts gern tat. "Wie wäre es, wenn ich dich mit in die Festung nehme?" Sie sah ihn nun direkt entgeistert an. "Zu den Assassinen?", hakte sie nach und prüfte seinen Blick nach Unwahrheiten ab. Er nickte ernst. "Bis dein Bein wieder verheilt ist", setzte er die Bedingung und sah hinauf zur Festung. Der Aufstieg würde sicher nicht einfach werden. Vielleicht sollte er sich ein Pferd bringen lassen. Sie war sprachlos. "Danke!" Ihre Augen leuchteten. Altaïr lächelte ruhig und stand auf. "Ich gehe ein Pferd suchen..."
"Altaïr?"
Er drehte sich um. "Was denn noch?" Sie schwieg kurz. "Ich heiße Nivin. Nivin Haaleh."

Assassin's Creed - DeceptionWhere stories live. Discover now