53. Kapitel: Und ich rannte, rannte um mein Leben

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Ich schaute Cecilia lange in die runden, roten, bittenden Augen.
Ich wusste, dass sie kein Nein akzeptieren würde, allerdings...ich hatte diese Geschichte noch nie erzählt.
Niemand außer mir kannte sie, und ich selbst war erst einige Zeit nach meiner ersten Verwandlung drauf gekommen, was wirklich passiert war.
„Bitte, bitte, bitte!“, bettelte Cecilia, „Ich habe dir auch die Geschichte erzählt, wie ich vor 60 Jahren zum Vampir wurde!“
Ich seufzte.
Sie hatte Recht.
Geschichte gegen Geschichte!
„Also gut...“, stimmte ich widerwillig zu, „zu aller erst musst du wissen, dass ich nicht von Anfang an wusste was mit mir geschieht, dass ich es überhaupt nicht bemerkt hatte. Ich wusste nur, dass etwas anders war als zuvor und nur nach und nach, und mit viel Recherche bin ich irgendwann dem auf die Schliche gekommen, was ich bin.“
Sie nickte eifrig und lauschte schweigend.
„Wie ich später herausfand, oder zumindest war es die Erklärung, die ich mir zusammenreimte und die ich bis heute noch für die Plausibelste halte, brauchte ich für meine Verwandlung zwei Komponenten. Die Verwandlung der Gestaltwandler wird durch ein Zusammentreffen mit Vampiren und einer daraus resultierenden Bedrohung ausgelöst. Dass man den Schatten zu sich ruft hat oft mit persönlichen Problemen zu tun, meistens macht man eine besonders schwere Zeit durch, hat Angst und ist Verzweifelt. Nach meiner Theorie musste bei mir beides zusammentreffen, dass ich zum Schattenwandler wurde und nicht zu einem normalen Gestaltwandler, oder Schattenträger.“, ich schluckte, „Ich...ich muss jetzt ein bisschen ausholen, damit du die persönlichen Probleme verstehst, die mich in diese Verwandlung getrieben haben.“
„Du musst das nicht machen...“, wehrte Cecilia sofort ab, als sie meinen unglücklichen Gesichtsausdruck sah.
Natürlich waren es keine schönen Erinnerungen, ansonsten hätte ich auch nicht den Schatten gerufen!
Aber...
„Doch, doch es muss sein. Und das aus zwei Gründen. Erstens: Du hast mir deine Geschichte auch erzählt und ich weiß, dass das ebenfalls keine schönen Erinnerungen sind. Zweitens: Ich habe diese Geschichte noch nie jemandem erzählt. Nicht Leah, nicht Yuki, nicht Jake und auch nicht meinem Bruder.“, sagte ich entschlossen.
„Du hast einen Bruder?!“, fragte sich ungläubig.
Ich schmunzelte: „Ja, aber dazu komme ich gleich. Wie gesagt, ich muss etwas ausholen.“
Sie nickte wieder aufmerksam und drückte meine Hand.
„Also, als ich fünf Jahre alt war, ist mein großer Bruder von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ich war untröstlich, er war mein ein und alles gewesen, ich konnte nicht verstehen warum er plötzlich weg war, warum er mich verlassen hatte, warum er mich bei meinen Eltern zurückgelassen hatte. Du musst wissen, dass das Verhältnis von mir und meinen Eltern noch nie besonders gut war. Als sie nach einiger Zeit dann aufgaben nach ihm zu suchen, wurde es sogar noch schlechter. Meine Eltern hatten ihn aufgegeben, nicht mehr daran geglaubt, dass er wiederkommen würde, nicht einmal, dass er noch lebt. Aber ich nicht. Ich habe immer an der Hoffnung festgehalten, nie aufgegeben; Ihn nie aufgegeben. Ich habe die Hoffnung bewahrt, dass wir uns eines Tages wiedersehen würden, und wenn meine Eltern nicht dafür sorgen würden, dann müsste ich das eben selbst in die Hand nehmen. Das habe ich mir geschworen, als ich fünf Jahre alt war und von diesem Moment an war es der Vorsatz, nach dem ich gelebt habe. Ich begann alle Erinnerungen, die es von ihm gab, alle Spuren, die mich zu ihm führen könnten, zu sammeln. Als ich dann alt genug war, beschloss ich meiner größten Spur nachzugehen. Dieser eine Hinweis den ich hatte führte mich nach Deutschland, München um genau zu sein. Denn dort hatte mein Bruder ein Auslandsjahr gemacht, und dort würde ich auch ein Auslandsjahr machen. Ich habe es also geschafft meine Eltern davon zu überzeugen und bin dann für eineinhalb Jahre nach Deutschland um meinen Bruder zu finden. So weit zu Vorgeschichte“, erklärte ich, „Ich war fast ein dreiviertel Jahr in Deutschland, als ich dabei war meinen jahrelangen Schwur zu brechen und mit der Suche nach Jeremy aufzugeben. Ich war allen seinen Spuren nachgegangen, die ich von ihm hatte. Ich war auf der gleichen Schule wie er, hatte mit seinen damaligen Freunden und seiner Gastfamilie geredet und hatte es sogar durchgesetzt, dass wir unsere Klassenfahrt in die gleiche Stadt machten wie er damals. Wir waren also gerade auf Klassenfahrt in Berlin, als ich meinen emotionalen und psychischen Tiefpunkt erreichte, es war der 11. Jahrestag von Jeremys Verschwinden und ich hatte keine Spur mehr, welcher ich noch nachgehen konnte, alle anderen hatten nichts ergeben. Ich fühlte mich nutzlos und alleine, da ich noch nie der Typ war, der andere mit seinen Gefühlen bewirft, schottete ich mich immer mehr von meinen Freunden ab, bis ich sie an diesem Tag ganz aussperrte und alleine durch das nächtliche, unbekannte Berlin lief. Irgendwann kam ich in einen Stadtteil, der nicht mehr ganz so freundlich aussah, wie das Viertel in dem unser Hotel stand. Ich hatte keine Ahnung wo ich war und mit meiner Orientierung konnte ich es vergessen den Weg nach Hause zu finden, schon gar nicht im Dunkeln! Ich bekam Panik und lief einfach weiter, in der Hoffnung irgendetwas bekanntes zu finden, irgendetwas an dem ich mich Orientieren konnte. Was ich erreichte war jedoch nur, dass ich mich noch weiter in dem Gewirr von Seitenstraßen und Gässchen verirrte, als zuvor schon.“, erzählte ich, gefangen in meiner Geschichte.
Ich nahm meine Umgebung nicht wahr, auch nicht Cecilia, die mir gespannt an den Lippen hing, ich war voll und ganz in meiner Geschichte versunken.
„Als ich irgendwann der festen Überzeugung war, dass ich verloren war und vermutlich nie wieder Menschen sehen würde – natürlich übertrieb meine Fantasie, aber die Gegend war schon sehr düster und gruselig – riss mich ein Hilferuf aus meiner Verzweiflung. Es war nicht laut, eher ein angsterfülltes Keuchen, ein Röcheln, aber ich hörte es. Ich bin von Natur aus neugierig und stecke meine Nase immer in alle Angelegenheiten – ob sie mich etwas angehen oder nicht – und das wurde mir zum Verhängnis. Ich folgte den Geräuschen bis zu einer Sackgasse. Leise, versucht kein Geräusch zu machen spähte ich um die Ecke, was ich sah konnte ich nicht ganz einordnen. Es waren zwei dunkle Schemen, die nur vom Mond leicht beleuchtet wurden, aber ich konnte sie deutlich erkennen, heute weiß ich, dass ich den Schatten schon ansatzweise nutzte, seit ich mich verirrt hatte, das schärfte meine Sinne, so konnte ich den Mann hören und die Personen in der Sackgasse erkennen, damals wusste ich es noch nicht, aber in der Situation war das sowieso eher nebensächlich. Ich starrte also gebannt auf die Szene, die sich mir bot: Eine dünne, grazile Frau, die einen großen, kräftigen Mann an die Wand gedrückt hatte und ihn gute 20 Zentimeter über dem Boden hielt. Mit einer Hand. Der Mann wehrte sich und strampelte, versuchte ihre Hand um seine Kehle zu lösen, aber die Frau bewegte sich nicht einen Millimeter. Auf einmal bewegte sich ihr Kopf so schnell, dass ich es kaum erkennen konnte, sie legte ihr Lippen an seinen Hals und dem Mann entfuhr ein letztes, geröcheltes 'Hilfe'. Ich war wie versteinert, konnte nicht um Hilfe rufen, ihm nicht helfen, nicht einmal wegrennen, als die Frau von ihm abließ und er tot zu Boden sank. Ich stand einfach da und starrte sie an. Die Frau wandte sich zum gehen, ich hatte nicht einmal Zeit zu blinzeln, als zwei weitere dunkle Gestalten bedrohlich in der Gasse standen. 'Du mordest zu auffällig.', sagte einer der Beiden gelangweilt. 'Wir sind schon länger auf dich aufmerksam geworden', stimmte der andere zu. Die Frau, die gerade noch so stark, so unbesiegbar gewirkt hatte, machte plötzlich einen geschockten, ängstlichen Eindruck gegen diese beiden hünenhaften Männer. 'Du weißt, was deine Strafe ist?', säuselte wieder der Erste der Beiden. Die Frau nickte verschreckt. 'Bitte nicht...', jammerte sie. Der Größere schnaubte verächtlich, hatte sie, schneller als ich schauen konnte, an die Wand gedrückt, woraufhin ihr der etwas Kleinere mit einem metallischen Reißen einfach den Kopf abriss. Das ganze dauerte keine zwei Sekunden und ich war noch immer Starr vor Schreck. Allerdings spürte ich, wie mein Herz vor Angst raste und drohte, mir aus der Brust zu springen. Die Beiden Männer fuhren herum und fixierten mich, wie ich wie angewurzelt da stand. 'Verdammt, warum ist sie uns nicht aufgefallen?!', knurrte der eine wütend, 'Jetzt müssen wir sie töten!' 'Was? Nein!', dachte ich geschockt, 'Ich will noch nicht sterben!' Ich erlangte die Kontrolle über meinen Körper zurück und wirbelte herum, mein einziger Gedanke war: 'Bloß weg von hier!' Und ich ergriff die Flucht. Ich hörte noch, wie einer der beiden sagte: 'Warte, erst bringen wir das hier zu Ende! Sie ist ein Mensch, sie kann uns nicht entkommen! Außerdem finde ich sie mit meiner Gabe überall!' Doch ich rannte einfach, rannte um mein Leben.“
„Und dann?“, flüsterte Cecilia angetan.
„Am nächsten Morgen bin ich in dem Park neben dem Hotel aufgewacht, umringt von meinen Freunden und Lehrern, die aussahen, als wären sie in der Nacht vor Angst um mich gestorben. Sie alle wollten wissen, wo ich gewesen bin, warum ich unter einem Baum im Park schlief, aber ich wusste es nicht. Alles was ich noch wusste war, dass ich am Vorabend traurig und verzweifelt das Hotel verlassen hatte um alleine zu sein, dass ich mich irgendwann verirrt hatte und dass ich hier wieder aufgewacht war.“, erklärte ich ihr.
„Aber...wenn du nicht mehr weißt, was in dieser Nacht passiert ist, wie konntest du mir dann diese Geschichte erzählen?“, fragte sie verwirrt.
„Damals wusste ich nicht, was wirklich passiert war. Ich hielt es alles für einen blöden Traum, der langsam, in Gedächtnisfetzen wieder kam. Aber als mir so etwas öfter passierte wurde ich langsam misstrauisch. Ich begann Nachforschungen anzustellen, über meine Herkunft und die komischen Vorkommnisse die mich immer wieder in diesen 'Träumen' heimsuchten. Ich begann zu glauben, dass es mehr auf dieser Welt gab, als das Offensichtliche. Irgendwann kam ich auch dem auf die Schliche was ich war, oder was ich glaubte zu sein und...es hat gedauert, aber ich habe es akzeptiert. Und als ich mein Schicksal angenommen und mich damit abgefunden hatte kamen die Erinnerungen zurück. Die Erinnerungen meiner ersten Verwandlung und aller darauffolgenden, sie waren zwar wie Erinnerungen an Träume, aber sie waren da und sie waren vollständig. Später fand ich auch heraus, dass es Vampire gab, dass es meinem Stamm bestimmt war sie zu jagen und dass ich darin auch nicht schlecht war. Ich lernte wie ich gegen sie kämpfen konnte, wie ich sie tötete. Ich lernte auch, dass mich mein Schatten vor Vampirgaben schützt und ich kam darauf, dass mein Schatten der Grund war, aus dem mich der Vampir von meiner ersten Verwandlung nicht mit Hilfe seiner Gabe finden konnte. Als ich eine Vampirin besser kennenlernte fand ich auch heraus, dass nicht alles in mir danach schrie euch zu vernichten. Im Gegenteil, der Stamm meiner Vorfahren, die Kurdu, gingen schon immer Bündnisse mit Vampiren ein, aus denen beide profitierten. Im Grunde lernte ich in diesem ersten Jahr alles, was ich bis heute weiß.“
„Wow!“, staunte Cecilia, „Deine Geschichte ist ja so viel besser als meine!“
Ich schmunzelte und strich ihr über die Haare: „Ich weiß nicht, ob ich das jetzt als Kompliment sehen soll!“, gab ich zu.
„Nette Geschichte!“, tönte eine Stimme von der Tür.
Wir fuhren beide herum.
„Licas! Wir haben dich nicht bemerkt!“, stellte ich überflüssigerweise fest.
„Ich weiß!“, grinste er.
„Du hast gelauscht!“, stellte ich ebenfalls, aber weniger amüsiert, fest.
„Ich geh dann mal!“, mischte sich Cecilia ein, drückte mich einmal fest und stahl sich dann an Licas vorbei durch die Tür ins Schloss.
„Ja, habe ich.“, stimmte Licas zu.
„Das ist unhöflich!“, beharrte ich weiter.
„Ich weiß, tut mir Leid!“, beteuerte er und ließ sich neben mir nieder.
„Warum bist du hier hoch gekommen?“, fragte ich.
„Ich weiß ja nicht, ob es um dein Zeitgefühl genau so schlecht steht, wie um deine Orientierung, was ich nicht hoffe, aber ihr wart sehr lange hier oben, es ist fast Morgen und wir brechen bald auf!“, teilte er mir mit.
Ich warf ihm einen bösen Blick für diese Bemerkung zu: „Man kann ja nicht alles können!“, fauchte ich gespielt beleidigt und stand auf.
Er lachte leicht und stand ebenfalls auf: „Ich weiß!“, schmunzelte er und zog mich durch die Tür, die Treppen hinunter, quer durch das Schloss, wobei sein Weg deutlich kürzer war als meiner, zu den anderen, die schon bereit zum Aufbruch warteten.
„Schön, dass ihr auch schon da seid!“, kommentierte Fabienne grinsend.
„Dann können wir ja los!“, bestimmte Vladimir.
Ich nickte zustimmend.
Plötzlich schmiss sich Cecilia in meine Arme: „Du hast mir versprochen nicht zu sterben!“, hauchte sie.
„Und ich halte meine Versprechen!“, beteuerte ich, „So wie ich das Versprechen gegenüber meinem Bruder gehalten habe!“
Ihr schien etwas wieder einzufallen: „Dein Bruder. Was ist mit ihm? Hast du ihn gefunden?“, fragte sie aufgeregt.
Ich lächelte und strich ihr eine verirrte Strähne aus dem Gesicht: „Ja, ja das habe ich.“
„Dann werde ich meine Schwester auch finden!“, schwor sie und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals.

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