Der Schlimmste aller Tage

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Töricht, auf Bess'rung der Toren zu harren!
Kinder der Klugheit, o habet die Narren
Eben zum Narren auch, wie sich′s gehört!

J. W. von Goethe, Kophtisches Lied

Das Leben war verdammter Bullshit.

Vielleicht könnte ich irgendjemanden bezirzen, mich in eine Zeitmaschine oder so zu schmuggeln, damit ich hier weg kam. Und es musste ja nicht unbedingt Zeitreisen sein. Ein Raumschiff würde mir auch schon reichen.

Auf diesen Pfaden wanderten meine Gedanken schon den ganzen weiten Weg von der Schule aus bis nach Hause in die tiefsten Tiefen der schottischen Pampa. Der Tag wäre schon ohne Regen schlimm genug gewesen, aber natürlich kam alles zusammen. Meine Haare hingen mir triefend nass über die Schultern, das Oberteil meiner Schuluniform war vollkommen durchnässt. Leise grummelnd folgte ich dem Asphaltband durch den Wald. Ein Auto fuhr an mir vorbei und bespritzte mich von oben bis unten mit Wasser und Schlamm. Fluchend rubbelte ich an meinem Rock, zwecklos. Darf ich vorstellen: der schlimmste Tag in der Geschichte der schlimmsten Tage überhaupt.

Besagter schrecklicher Donnerstag begann mit Kopfschmerzen, einem schalen Geschmack im Mund und dem seltsamen Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben.

„Keira?"

Stöhnend rollte ich mich auf den Bauch.

Ich hatte von Cherry geträumt. Schon wieder. Wenn mich meine Schwester noch öfter in meinen Träumen verfolgte, konnte ich mein Zehnte-Klasse-Zeugnis vergessen.

„Keira, musst du nicht zur Schule?"

Mums zynische Stimme riss mich aus dem Dämmerschlaf. Shit. Ich warf einen Blick auf den Wecker - 6:19 Uhr. Schon wieder zu spät.

Fluchend schlüpfte ich in meine Schuluniform. Mrs McLaren würde mich umbringen. Ich schnappte mir meine Tasche, meinen Block und eine Haarbürste. Auf dem Weg die Treppe runter kämpfte ich mit meinen dunkelbraunen Haaren und warf die Bürste im Laufen in die Schublade im Bad. Mum saß am Frühstückstisch, hielt eine Kaffeetasse in der Hand und las in einem Buch. Als ich hereinstürmte, sah sie auf. Die Haarfarbe hatte ich von ihr geerbt, aber im Gegensatz zu ihren braunen Augen waren meine grünlich gelb. Katzenaugen, hatte Dad immer gesagt.

„Vielleicht solltest du dir einen neuen Wecker zulegen", kommentierte Mum sehr hilfreich und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Zu hektisch, um zu antworten, schnappte ich mir ein Toastbrot, von denen einige in weiser Voraussicht - ich kam wirklich oft zu spät - auf einem Teller in der Mitte des Tisches standen. Beim Essen ging ich zurück ins Bad und steckte mir meine Ohrringe in die drei Löcher an dem einen und in die zwei am anderen Ohr. Ich sprintete in die Küche, schnappte Tasche und Block von dem Stuhl, auf den ich sie fallen gelassen hatte, gab Mum einen Kuss und stürmte nach draußen. Mir blieben zehn Minuten, um zur Bushaltestelle zu kommen. Wenn ich den verpasste und zur Schule laufen musste, wäre mir Mrs McLarens Zorn absolut sicher.

Keuchend kam ich an der Haltestelle an, die zwischen Bäumen verborgen am Rand der Straße lag. Weit und breit kein Bus zu sehen. Ich warf einen Blick auf mein Handy. 6:32 Uhr. Der Bus kam erst in fünf Minuten. An der Haltestelle stand niemand außer mir, irgendwo rief ein Uhu. Der Wind rauschte in den Bäumen und als ich zum Himmel schaute, sah ich dunkle Wolken. Ich hatte meine Jacke vergessen. Sah so aus, als würde ich nass werden. Ich zog meinen A5-Block aus der Tasche und zückte einen schwarzen Stift. Ich schrieb für mein Leben gern Gedichte. Die Wörter auf das Papier gebannt zu sehen, beruhigte mich.

Wer gleitet durch die Dunkelheit,

schnell getragen vom Zorn der Zeit?

Bringt Zerstörung in das Land,

Nebelsucher - Kinder des WaldesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt