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»Was – ist – das?« Ich spreche akzentuiert. Betone jedes Wort und mache dazwischen Pausen. Wirkt dramatischer, nicht wahr? Passend zu dem komischen Vieh in dem Käfig vor mir.

Nathalie trägt es mit sich herum. Sie kam gestern schon zu uns, um Kim zu besuchen. Also Nathalie kam her, nicht das Tier. Wobei das Tier mit ihr kam. Verdammter Mist, ich brauche Kaffee.

»Das ist mein Chinchilla.«

»Was zur Hölle ist ein Chinchilla?«

Ich bin müde. Unausgeschlafen. Und Nathalie hilft nicht dabei. Nicht einmal annähernd, denn sie folgt mir in die Küche. Es waren ... drei Stunden Schlaf. Ich war heute Nacht länger auf der Bank, weil es zum ersten Mal nicht seltsam war, neben dem Mädchen zu sitzen. Dass sie lächelt und etwas sagt ... Darf ich das Wort »Hoffnung« in den Mund nehmen?

»Elias?«, fragt Nathalie und reißt mich abermals aus meinem Zombie-ähnlichen Zustand.

Ich habe sie wirklich gern, sie ist witzig und ihre Pflegefamilie bringt sie zu den Orten, an denen Kim sich aufhält. Es ist schwierig zu erklären und ich bin noch nicht wach genug, um es sinnvoll zu erläutern. Doch es ist so: Kim und Nathalie kennen sich seit Jahren. Als Nathalie zu einer Pflegefamilie kam und Kim zu ihrer richtigen Mutter zurückkehrte, sahen sie sich nicht mehr so oft. Da Kim aber jede Ferien bei uns verbringt, wenn ihre Mutter arbeitet, kommt Nathalie in diesen Zeiten auch oft zu uns.

»Ein Chinchilla ist mein Haustier«, sagt sie in diesem Moment und ich starre sie sprachlos an. Gegen so eine Logik kommt niemand an. »Und sie heißt Ron.«

Ron. Natürlich, denn der Morgen mit nur drei Stunden Schlaf kann nicht noch verrückter werden als eine Zwölfjährige, die ein weibliches Haustier hat, das den Namen Ron trägt. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es schwarz ist, mit grauen Ohren, Schwanz und Bauch. Interessante Farbkombi. Ob Tiere sich das aussuchen können? Ob ein schwuler, männlicher Chinchilla im Mutterleib sagt: »Hm, Junge, du könntest ein bisschen rosa vertragen?« Er wäre bestimmt der coolste Chinchilla seiner Klasse. Ich würde ihn Hans nennen.

»Du nennst deine weibliche neue Freundin Ron? Das ist ein Jungenname«, versuche ich in meiner Logik Nathalie davon zu überzeugen, wie doof unser Gespräch ist. Gleichzeitig befülle ich die riesige Kaffeemaschine, die Ma nicht mehr im Café gebraucht hat. Vier Tassen gleichzeitig können laufen – echter Luxus, der hier dringend benötigt wird.

»Ich dachte, sie ist ein Junge. Sie sah so nach Junge aus.«

Ich starre sie an. Sie starrt zurück. Ron macht ... Ich hab keine Ahnung, was Ron macht. Es sieht aus, als putzt sie sich. Vielleicht feilt sie ihre Fingernägel. Was weiß ich schon. Tiere standen bisher immer auf meiner roten Liste. Ma erlaubte keine, ich wollte keine, Ende des Themas.

Da es noch vor neun Uhr ist, ist sonst keiner wach. Fia schläft an Wochenenden immer aus, egal ob Ferien oder nicht. Wo Luca ist, weiß ich nicht genau, in seinem Bett lag er nicht.

»Wo ist eigentlich Kim?«, frage ich langsam und kneife fest die Augen zusammen. Manchmal erinnert mein Zuhause mich an ein Irrenhaus. Nein, an einen Zoo. Ich liebe es ja, denn es wird selten langweilig, aber ich wollte doch einfach nur in Ruhe etwas zu trinken holen und dann zu Ma ins MH stoßen, um ihr den Auftrag eines Kokosnuss-Cupcakes zu geben.

Mir fällt auf, dass Nathalie grinst. Breit grinst. O Gott. Fu*k Fu*k Fu*k Fu*k Fu*k! (Da kleine Kinder anwesend sind, muss ich Rücksicht nehmen.)

Kim ist schon vierzehn und gewitzt. So gewitzt, dass sie mal aus der Schule ausgebrochen ist und kein Lehrer das bemerkt hat. Ein anderes Mal hat sie ein Erdmännchen aus dem Zoo mitgehen lassen. Man sollte Angst vor ihr haben. Ihr das aber nie zeigen. Das ist wie mit Hunden – Kim kann Angst riechen.

»Ich habe dir einen Deal vorzuschlagen«, sagt Nathalie und stellt endlich ihren Käfig ab. Mein Kaffee hinter mir piepst, um mir mitzuteilen, dass er fertig ist. Ich ignoriere ihn. »Eigentlich wollte ich das Fia vorschlagen, aber sie schläft noch. Also bist du jetzt unser Sündenbock.«

Das klingt nicht gut. Ganz und gar nicht gut.

»Wir wollen heute Eis essen gehen«, startet Nathalie. Etwas zu sagen, ist sinnlos. Wo immer Kim gerade steckt, sie heckt sicher einen Plan aus, um mir zu schaden, sollte ich ihren Wünschen nicht nachkommen. Ich sitze in der Patsche. Scheiße.

»Wo ist Kim denn? Dann können wir das alle zusammen besprechen.«

Nicht in Schweiß ausbrechen. Nicht in Schweiß ausbrechen. Nicht in Schweiß ausbrechen. Kim ist nur ein kleines Mädchen. Nichts weiter. Jünger als du. Kleiner als du. Stärker als du, was mir schmerzhaft bewusst wird, als sie von hinten auf meinen Rücken springt und mich umklammert.

»Du hast mich nicht bei vollem Namen genannt!«, brüllt Kim.

Ich will weinen. Männliche Tränen, versteht sich. Ich bin immerhin ein Mann, der es schafft, dieses kleine Mädchen abzuschütteln. Oder auch nicht.

Versteht ihr endlich, endlich, endlich, was ich euch von Anfang an sagen will? Dass dieses Haus ein Haus der Verrückten ist? Dass es nicht toll ist, hier zu leben?

»Kim Possible!«, schreie ich zurück, »geh bitte von mir herunter!«

Freakshow. Mein Leben ist eine Freakshow. Ich erwarte nur, dass irgendwann Guido von »Verstehen Sie Spaß..?« auftaucht und mir sagt, dass all das geplant war. Oder ich erkenne eines Tages, dass mein ganzes Leben eine Art »Truman Show« ist. Ich werde gefilmt und vor unmögliche Situationen gestellt, die ich zu bewältigen habe. Vielleicht ist mein Leben auch ein Computerspiel und irgendwelche Deppen lachen sich gerade ihre Hintern ab.

So oder so muss ich Eis essen gehen. Ist das nicht ein toller Tag?


[A/N: Nathalie, verkörpert von Nanaczik . Kim, verkörpert durch Littel_Lion]

Everyday at midnight {I look up to the stars}Where stories live. Discover now