Kapitel 26

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Ich sitze da wie betäubt und halte meinen Kopf. Er tut so weh. Es fühlt sich an wie tausende kleine Nadelstiche. Mir wird schwindlig und gleichzeitig schlecht. Das kann doch alles nicht wahr sein? Wieso? Wieso geschieht sowas? «Hören Sie zu Frau Salihi...» mehr verstehe ich nicht. Ich hebe kurz den Kopf um sie anzuschauen. Sie sieht verzweifelt aus. Oder bin ich es? Ich kriege mich nicht wieder ein. «Soll sie jemand abholen? Soll ich ihren Verlobten anrufen?» Mergim? Jetzt? Sie spinnt doch. Ich kann ihm doch nicht in die Augen schauen. Was soll ich ihm sagen? Für ihn würde eine Welt zusammenbrechen, genauso wie bei mir. «Nein» sage ich sofort. «Ich gehe jetzt lieber nach Hause. Alleine.» «Na gut. Wir vereinbaren den nächsten Termin und besprechen das weitere Vorgehen» Was für ein Termin, denke ich mir. Ein Termin macht es nicht besser. Nichts wird besser. Immer wenn man denkt, dass es nicht schlimmer geht, passiert war. Habe ich nicht schon genug gelitten? Was habe ich getan, dass ich diese Strafe verdient habe? Was? Sag was? Ich glaube, dass ist der erste Moment, an dem ich an Gott zweifle. Gäbe es einen Gott, würde er die guten Menschen nicht immer bestrafen? Und wenn ich ein schlechter Mensch bin, dann will ich wissen, was ich falsch gemacht habe? Ist es falsch jemanden zu lieben? Seine Familie, Freunde? Ist es falsch ein gewöhnliches Leben haben zu wollen? Wie jeder andere auch? Ich bin so enttäuscht. Enttäuscht von allem. Das hat mir gerade den Rest gegeben.

Als ich zu Hause ankomme, sind meine Eltern und Leon gerade am Qaj (Tee) trinken. Wie schön sie es haben. Ich stell mir gerade vor, was für ein Leben meine Eltern gehabt hätten, wenn sie Leon und mich nicht hätten. Würde das ähnlich aussehen, einfach ohne uns? Wären sie überhaupt glücklich? So viele Fragen und keine Antworten. Ich gehe in mein Zimmer und lege mich hin. Kurze Zeit später schreibt mir Mergim. Ich ignoriere die Nachricht und mir laufen Tränen. Irgendwann falle ich in einen tiefen Schlaf.

«Nein, nein! Nimm mir mein Kind nicht weg! Nein bitte!» Ich bin im Krankenhaus und zwei Krankenschwestern nehmen mir mein Kind weg. Mein Baby! Es gehört mir! «Nein bitte!» Sie laufen weg und verschwinden in der Dunkelheit. In der Ferne höre ich das Weinen meines Kindes. Wieso machen sie das? Ich will mein Kind zurück. Schweissgebadet wache ich auf. Ein Traum, oder besser gesagt ein Alptraum. Schön wäre es, wenn alles ein Alptraum ist. Doch leider zeigen mir die Unterlagen der Frauenärztin auf dem Tisch etwas anderes. Die Realität sieht anders aus. Schrecklich sieht sie aus und genau so fühle ich mich auch. Mergim hat mir noch weitere Male geschrieben. Was soll ich bloss darauf antworten? Soll ich es ihm erzählen? Er hat ein Recht darauf es zu erfahren. Ich schreibe ihm zurück und dass wir uns in der Stadt treffen. Er will mich aber lieber abholen.

Ich tue so, als wäre nichts. Gott sei Dank ist das eine Eigenschaft, die ich gut beherrsche. Mir ist nichts anzusehen. Pokerface halt. Später klingelt es auch schon. Mergim ist da. Meine Mutter bittet ihn herein, aber er meint, dass er nicht viel Zeit hat, sonst würden wir zu spät kommen. Na super. Was hat er wohl geplant? Bei ihm weiss man nie. Er ist voll der spontane Typ. Er macht das, worauf er gerade Bock hat. Wir fahren gleich los. «Wo warst du gestern?» «Nirgends. Wieso?» lüge ich ihn an. «Wieso hast du dann nicht auf meine Nachrichten reagiert?» «Mein Handy war auf lautlos und bin beim Lesen eingeschlafen» «Aha okay. Was für ein Buch war es denn?» Ich merke, dass er mir nicht glaubt, aber ehrlich gesagt habe ich auch kein Bock auf diesen Kindergarten. «Kennst du nicht» sage ich kalt und die Unterhaltung ist hiermit beendet. Während die Musik vom Radio zu hören ist, gehe ich unsere Unterhaltung Wort für Wort in unserem Kopf durch. Ich überlege mir schon die ganze Zeit wie ich ihm das sagen soll. Egal wie ich es tue. Es wird schmerzhaft sein und zwar für uns beide.

Mergim fährt zu sich nach Hause. Ehrlich gesagt habe ich das gar nicht erwartet. Ich habe gedacht, dass er etwas anderes geplant hat. Als wir bei ihm angekommen sind, gehen wir in seine Wohnung. Kurz vor der Tür bleibt er stehen. «Hör zu Tina. Ich weiss nicht was ich falsch gemacht habe und wieso du sauer auf mich bist, aber ich wäre dir sehr dankbar wenn du deine schlechte Laune heute Abend lieber weg lässt. Meine Familie hat sich sehr gefreut diesen Abend mit dir zu verbringen und es sollte eigentlich eine Überraschung werden. Wenn du aber keine Lust darauf hast, dann fahre ich dich wieder nach Hause und sage, dass es dir nicht gut geht. Okay?» Mergim's Blick sieht ziemlich traurig aus. Wahrscheinlich gibt er sich selber die Schuld, dass ich so schlecht gelaunt bin. Dabei ist er es, der am wenigsten etwas dafür kann. Ich könnte losheulen, so scheisse wie ich mich gerade fühle. «In Ordnung» sage ich. Er erzwingt ein Lächeln und entschuldige mich «Tut mir leid» «Schon okay. Reden wir später darüber. Sie warten» Er öffnet die Tür und lässt mich zuerst hineingehen. Mergim's ganze Familie ist hier. Sie haben gekocht und mir einige Geschenke gebracht. Luana, Mergim's Schwester, kommt auf mich zu. «Hey Tina schön dich zu sehen.» Sie umarmt mich und es folgen noch die anderen Familienmitglieder. Sie scheinen alle so glücklich zu sein und freuen sich für Mergim und mich. Manchmal bemerke ich, wie Vera fast weint. Sie scheint so stolz auf ihren Sohn zu sein. Wir verbringen einen wunderschönen Abend zusammen. Später gehen die anderen auch wieder nach Basel und Mergim und ich bleiben zurück. Alleine. «Danke» sagt er. Ich nicke nur freundlich. «Ich möchte dir gerne noch etwas zeigen» Mergim nimmt meine Hand und zieht mich zu einer Tür. «Ich weiss, es ist noch viel zu früh, aber ich habe schon mal angefangen» Er öffnet die Tür und da stehen verschiedene Kisten und Bretter herum. Es sieht so überfüllt aus. Der Boden ist abgedeckt und die Wände sind streichbereit. «Was denkst du? Zuerst pink oder blau?» Es zerreisst mir das Herz...

SchicksalsschlägeWhere stories live. Discover now