Kapitel 5

7.3K 633 74
                                    

Als Kind war mir der geschlossene Frieden mit Mikéle wie ein unglaublicher Sieg vorgekommen. Mein „Feind" war nicht mehr länger ein Feind und ich glaubte, endlich Ruhe vor ihm und seiner Schwester zu haben. Es ist seltsam, wie ein Kind die Welt wahrnimmt. Es macht aus einer Mücke einen Elefanten und glaubt, dass dies wirklich die Dinge waren, die die Welt bewegten.

Voller Freunde und erfüllt von Erleichterung ließ ich den Spielplatz hinter mir. Ich stellte mir das Gesicht meines Bruders vor, würde ich ihm erzählen, was geschehen war. Erst würde er mir nicht glauben und dann würde er sich mit mir freuen. Zur Feier des Tages würden er, James und ich uns eine Packung Kekse teilen. Die, mit Schokolade.

Dunkle Wolken zogen über den Himmel, färbten ihn pechschwarz. Dabei war es vielleicht gerade einmal siebzehn Uhr. Schwer hingen die Wolken herunter, sodass es wirkte, als würden sie gleich den ganzen Himmel zu mir hinunter holen. Gleich würde er wohl seine Schleusen öffnen.

Jetzt beeilte ich mich, so gut es mit meinen Krücken nun einmal möglich war. Die ersten Tropfen fielen schon vom Himmel. Gleich würde es richtig losgehen und ich hatte keine Lust, bis auf die Knochen nass nach Hause zu kommen. Der Wind wurde stärker, es wurde kälter. Aber wie schon so oft machte mir Kälte nichts aus. Nein, ich empfing sie mit offenen Armen. Sie fühlte sich angenehm an, was Lucius nie verstanden hatte.

Ich hatte schon beinahe unsere Straße erreicht, als ich einen Schatten bemerkte, der sich in der Dunkelheit der Bäume versteckt hielt und mir folgte. Blitzschnell drehte ich mich um und starrte in den Wald, neben dem ich hergelaufen war. Was sollte das? Mein Herz klopfte wild. Oft hatte mein Vater mich vor Fremden gewarnt. „Steig nicht einfach in ein Auto zu fremden Leuten. Egal, was sie dir anbieten. Keine Süßigkeiten, keine Kaninchenbabys, verstanden?"

Aber hier war kein Auto. Ich kniff meine Augen zusammen, um die Umrisse besser erkennen zu können. Mein ganzer Körper spannte sich an. Die Angst wollte mich vorantreiben, obwohl ich noch nicht einmal wusste, wovor ich Angst haben musste.

Langsam kam der Schatten näher. Ich wich zurück. Dann trat die Gestalt aus der Dunkelheit und ich sog scharf die Luft ein. Es war der Drache! Meine Klassenlehrerin! Erschrocken taumelte ich zurück. Weshalb verfolgte sie mich? Reichte es ihr nicht, mich in der Schule zu beobachten? Sie lächelte mich an. „Hallo Freya Winter." Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

Das war irgendwie unheimlich. Außerdem ... was hatte sie da in der Hand? War das etwa eine Spritze? Ich hasste Spritzen! Und was wollte sie damit? Verzweifelt suchte ich nach einem Fluchtweg. Aber mit den Krücken würde ich nicht weit kommen. Egal wie schnell ich davon humpeln würde. Und das war nicht mein einziges Problem. Mein ganzer Körper war erstarrt. Unfähig, mich zu bewegen, konnte ich sie nur aus großen Augen ansehen.

„Du kannst mir nicht entkommen, Freya.", sagte Miss Magpie lächelnd. „Ich habe schon viel zu lange auf diesen Augenblick gewartet. Und nun ist er endlich da!" Ängstlich schluckte ich. Nun zeigte sie ihre wahre Gestalt. Jetzt könnten auch die anderen sehen, dass Miss Magpie in Wahrheit ein Drache war. Doch niemand war da, der das sehen könnte.

Ihr Lächeln bekam langsam eine bitterkalte Note. Sie war doch verrückt! Was wollte sie denn von mir? Mein Atem ging so schnell, dass ich glaubte, gleich umfallen zu müssen. Ich war einfach nur Freya. Freya Winter, acht Jahre alt und Schwester von Lucius Winter! Ich war nicht besonders. Wieso also musste sie es gerade auf mich abgesehen haben?

Miss Magpie machte sich nichts aus meiner Not. Erbarmungslos kam sie näher, packte meinen Arm. Wie ein Schraubstock umklammerten ihre dünnen Finger mich schmerzhaft. Kein Laut kam über meine Lippen. Selbst Jahre später konnte ich noch immer nicht erklären, weshalb ich nicht einfach losgerannt war. Weshalb ich diese hinderlichen Krücken nicht einfach vor ihre Füße geworfen und das Weite gesucht hatte. Ich war klein. Ich hätte mich in irgendein Gebüsch quetschen und davonkriechen können. Wie hätte sie mir folgen können?

Metallisch blitzte die Nadel auf. Ein einzelner verirrter Sonnenstrahl durchbrach die dichte Wolkendecke und ließ die blaue Flüssigkeit funkeln. Schlagartig kam mir der Gedanke von Eisbonbons in den Sinn. Das war - weshalb auch immer - der einzige klare Gedanke, den ich fassen konnte. Das Blut pochte entsetzlich laut in meinen Ohren, sodass ich glaubte, taub werden zu müssen.

„Dann wollen wir mal sehen, zu was du später mutierst." Zum aller ersten Mal wirkte ihr Lächeln freundlich und das fand ich grässlicher als alles andere.

Das letzte, was ich von mir gab, war ein Schrei und zwar genau dann, als Miss Magpie mir ihre Spritze in den Hals rammte. Explosionsartig breitete sich der Schmerz aus, erwischte mich kalt und ich spürte, wie die Flüssigkeit in meinen Hals gespritzt wurde. Wie Eis floss sie durch meine Adern und schließlich durch meinen gesamten Körper. Alle Kraft verließ mich mit einem Schlag. Dumpf kamen die Krücken auf dem Boden auf. Sie schienen mir auf einmal viel zu schwer, als dass ich sie weiter halten könnte. Die Müdigkeit überkam mich so plötzlich, dass ich stark schwankte. Meine Augenlider flatterten wie die Flügel eines Kolibris.

Miss Magpie gab ein zufriedenes Geräusch von sich. Ich hörte schnelle Schritte. Jemand rannte.

„Freya?" Das war Mikéles Stimme. Er hatte meinen Schrei gehört und war auf den Weg hierher. Er würde mir helfen. Nicht ich würde es sein, die den Drachen bekämpfte. Sondern Mikéle. Er würde der Held sein, nicht ich.

Doch ich würde es nicht miterleben. Schwarze Flecken tanzten vor meinen Augen und mir wurde immer schwindeliger. Bis ich mich irgendwann selbst nicht mehr halten konnte. Kraftlos sank ich zu Boden. Selbst das Atmen fiel mir schwer. Mir fiel alles schwer. Die Augen aufzuhalten, weiter zu atmen, weiter zu leben.

Ich hörte Miss Magpie etwas sagen. So etwas wie: „Na endlich. Das hat lange genug gedauert."

Dann holte mich der Schlaf. Die Dunkelheit umfing mich wie eine wohlwollenen Umarmung, flüsterte mir Dinge zu. Beruhigende Dinge. Es würde alles gut werden. Doch noch wusste ich nicht, dass auch sie eine Lügnerin war.

Ab dann versank meine Welt in Schwarz und ich bekam gar nichts mehr mit.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now