Kapitel 85

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Draußen warfen uns die vorbeilaufenden Menschen irritierte Blicke zu. Andere blieben stehen und musterten uns skeptisch.

Hektisch sah ich mich um und bemerkte, wie Lucius es mir gleich tat. Nicht mehr lange und hier würden schwer bewaffnete Einsatztruppen anrücken. Die Zeit rann zwischen meinen Fingern unaufhörlich davon. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde unsere Notlage größer.

Hinter dem Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite konnte ich die Spitze des Big Bens erkennen. Vor uns lag nun die Hauptstraße und wie immer waren hier viele Touristen zu sehen. Manche von ihnen waren viel zu sehr damit beschäftigt, Fotos zu machen, dass wir ihnen überhaupt nicht auffielen. Sollten wir nun nach rechts oder nach links gehen? Da uns die Zeit fehlte, dachte ich nicht weiter darüber nach und eilte nach rechts. Wir würden die Westminster Bridge überqueren, die über die Themse führte. Im Notfall könnten wir auf eines der kleinen Boote springen, die unter der Brücke durchfuhren. Dafür allerdings musste eines auch im richtigen Augenblick kommen. Andernfalls müssten wir improvisieren und in den Straßen Londons untertauchen.

Ohne meine Entscheidung in Frage zu stellen, folgten mir Varya und Lucius. Hastig schlängelten wir uns durch die vielen Menschen und betraten die Westminster Bridge. Über uns verdunkelten graue Wolken die Sonne. Unter uns rauschte das dreckige Wasser der Themse. Aus der Ferne war das schrille Geheul von Sirenen zu hören. Wie weit würden die Polizisten oder Beauftragte der Regierung gehen, um uns aufzuhalten, wenn sich hier auch Zivilisten aufhielten? Theoretisch mussten sie das Gebiet räumen und absperren. Doch das würden sie wohl kaum tun. Schließlich ging es hier um flüchtige Mutanten.

Das Sirenengeheul kam immer näher. Und in der Ferne war das Geräusch von mindestens einem Hubschrauber zu hören. Leise fluchte ich. Es sollte nicht so enden, wie beim letzten Mal. Nein, das würde ich zu verhindern wissen. Nicht noch einmal würde ich von irgendwem in einen Käfig gesteckt werden. Nie wieder würde jemand dazu in der Lage sein, mich einzusperren und sonst was mit mir anzustellen. Es reichte mir. Endgültig. Ich würde alles tun, um so etwas zu verhindern.

Lucius warf einen Blick zurück und ich konnte sehen, wie sich sein Gesicht verdunkelte. „Die Polizei.", sagte er knapp und schien im Kopf schon unsere Optionen durchzugehen. Varya schluckte und ihr war anzusehen, dass sie fürchtete, ihre neu gewonnene Freiheit bald schon wieder zu verlieren. Aber das würde ich nicht zulassen. Varya hatte lange genug in Gefangenschaft gelebt.

Mittlerweile befanden wir uns genau in der Mitte der Brücke. Zum Umkehren war es bereits zu spät. Und blieb nur noch der Weg nach vorne. Doch dort würde man uns zweifelsohne den Weg abschneiden. Vielleicht war meine Entscheidung, über die Brücke zu flüchten, doch sehr überstürzt gewesen. Aber mich selbst verfluchen konnte ich später immer noch. Vorausgesetzt, ich wäre noch am leben.

„Was jetzt?", keuchte Varya verzweifelt. Die Angst stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Immer wieder huschte ihr Blick zu den heranfahrenden Polizeiwagen. Schnell suchten meine Augen das Wasser der Themse ab. Natürlich waren im Moment überhaupt keine Boote in der Nähe. Zwar näherten sich zwei, aber sie waren noch zu weit entfernt, um auf ihnen fliehen zu können. Zähneknirschend musste ich mich mit dem Gedanken abfinden, stehen zu bleiben und kämpfen zu müssen. Wortlos ließ ich in meinen Händen zwei Eismesser entstehen, die ich Lucius überreichte. Dankend nickte er kurz, ohne seine Augen von den Wagen der Polizisten zu nehmen.

Alles in mir spannte sich an. Meine Sinne schärften sich. Ich war bereit. Nur ein Fingerzucken von mir und die Themse wäre kein fließender Fluss mehr. Mit quietschenden Reifen und heulenden Sirenen hielten die Wagen am Anfang der Brücke. Nun ertönten die Sirenen auch von der anderen Seite. Wir würden in wenigen Minuten umzingelt sein. Die Türen wurden aufgerissen und Polizisten mit gezückten Waffen stiegen aus. Schnell hatten sie uns zwischen den Menschen ausgemacht und zielten bereits auf uns. Ein anderer Polizist zog ein Megafon aus dem Auto, mit dem er die Zivilisten bat, die Ruhe zu bewahren und die Brücke zu verlassen. Diese verließen die Brücke auch schnell. Allerdings nicht ruhig. Hektik und Panik brach aus. Schnell eilten Menschen ängstlich an uns vorbei und konnten die Brücke gar nicht schnell genug verlassen. Um mich herum fielen die Temperaturen drastisch. Zu meinem Missfallen musste ich feststellen, dass sich nun auch bewaffnete Beamte auf der anderen Seite befanden. Wir konnten nirgendwo hin. Über uns verursachten zwei Helikopter einen ohrenbetäubenden Lärm. Jedoch gehörte nur einer von ihnen zu den Bewaffneten. Der andere Helikopter, der auf einer gewissen Distanz blieb, gehörte wohl einem Fernsehteam. Meine Miene verdüsterte sich. Das konnten wir nicht gebrauchen. Doch großartig tun konnte ich nichts dagegen. Es käme überhaupt nicht gut an, ein unbeteiligtes Fernsehteam mit Eis aufzuspießen.

Der Polizist mit dem Megafon wiederholte seine Anweisung: „Bitte verlassen Sie umgehend die Brücke. Bewahren Sie Ruhe. Wir haben alles unter Kontrolle." Da die Polizisten keine Anstalten machten, sich uns weiter zu nähern, brachten Lucius die Eismesser überhaupt nichts. Eigentlich bräuchte er jetzt seine Pistole oder irgendeine andere Schusswaffe. Doch das war im Moment nicht möglich. Auch Varya konnte nichts großartig tun. Im Nahkampf war sie gut. Und sie war schnell. Aber das würde ihr jetzt nicht helfen. Noch ehe sie bei denPolizisten ankommen würde, würde man sie erschießen. Also blieb nur noch ich mit meinem Eis übrig. Doch was sollte ich tun? Zwei gewaltige Eiswände erschaffen, die uns von den Polizisten auf den beiden Seiten der Brücke abschirmten? Und was dann? Über uns kreiste der Helikopter, in dem die Uniformierten nur darauf warteten, dass wir einen falschen Schritt taten. Ohne zu zögern würden sie uns erschießen. Selbst wenn ich den Helikopter vom Himmel holen würde, würde das nicht unser Problem auf beiden Seiten der Brücke lösen.

Noch immer eilten Menschen an uns vorbei. Darunter auch eine junge Frau mit dunkelbraunen Rasterlocken, die von weißen Strähnen durchzogen wurden. Ich würde sagen, dass sie kaum älter als neunzehn oder zwanzig sein konnte. Sie trug eine dünne, braune Jacke und eine kurze blaue Hose. Plötzlich blieb sie neben uns stehen. Mit den Händen in ihren Jackentaschen vergraben drehte sie ihren Kopf zu uns. Ein leichtes Lächeln lag auf ihren Lippen und ihre dunklen Knopfaugen musterten uns der Reihe nach. „Braucht ihr vielleicht Hilfe?", fragte sie freundlich. Skeptisch betrachtete ich sie. Allein vom Äußeren her hätte ich gesagt, dass sie ein Mensch war. Doch das konnte täuschen. Dafür war Kieran das perfekte Beispiel. Und es war äußerst unwahrscheinlich, dass ein Mensch ruhig blieb und seine Hilfe ausgerechnet zwei Mutanten und einem Menschen anbot, der mit diesen unterwegs war.

Mittlerweile war die junge Frau die einzige, abgesehen von uns, die sich noch auf der Brücke befand. In ihren merkwürdigen Knopfaugen zeigte sich eine erstaunliche Entschlossenheit. Außerdem schien sie keinerlei Angst zu haben.

„Miss, bitte verlassen Sie die Brücke.", sprach der eine Polizist in sein Megafon. Doch er wurde ignoriert. Es war als hätte sie ihn gar nicht gehört. Oder sie hatte ihn einfach ausgeblendet.

„Braucht ihr Hilfe?", wiederholte die junge Frau ihre Frage. Weder Lucius, noch ich sagten ein Wort. Uns kam das beiden etwas suspekt vor. Außerdem gab ich nicht gerne zu, dass wir eventuell ein wenig in der Klemme saßen.

An meiner Stelle tat das Varya. „Ja.", krächzte sie mit ihrer kaputten Stimme. „Es sieht so aus." Das Lächeln auf den Lippender jungen Frau wurde eine Spur breiter. Beiläufig wanderten ihre Hände zu ihren Rasterlocken, die sie mithilfe eine Gummis locker zusammengebunden hatte. Vorsichtig entfernte sie das Gummi. „Na, wenn das so ist. Dann wollen wir mal anfangen.", sagte sie. Ihre Stimme klang ganz sanft und ungewöhnlich ruhig in Anbetracht der Situation. „Immerhin müssen wir Mutanten zusammenhalten." Sie schenkte uns noch ein herzliches Lächeln, ehe sie sich zu den Polizisten auf der Seite zuwandte, auf der sich auch der Big Ben befand. Noch einmal schüttelte sie kurz ihre Rasterlocken, ehe diese sich urplötzlich in lange Stacheln mit Widerhaken verwandelten. Ich konnte sie nur erstaunt ansehen. Tatsächlich. Sie war eine Mutantin. Und im Gegensatz zu mir fiel sie unter Menschen überhaupt nicht auf. Lebte sie etwa in Freiheit? Wie ein normaler Mensch? Ein kleiner Stich von Eifersucht erschien in meinem Herzen, doch ich ignorierte ihn gekonnte. Das tat nichts zur Sache. Fragen konnte ich später stellen, wenn wir das hier überstanden hatten.

„Kümmere du dich bitte um den Helikopter.", bat sie mich, ehe sie sich an meinen Bruder und Varya wandte. „Und ihr beide nehmt euch bitte die Polizisten auf der anderen Seite vor." Danach stürmte sie wortlos los. Dabei tänzelte sie geschickt umher und wich auch der ersten Pistolenkugel aus, die eigentlich für sie bestimmt war. Sie vollführte eine halbe Drehung, wobei ihr Haar, das nun aus Stacheln bestand mit herum gewirbelt wurde. Allerdings lösten sich nun einige Stacheln und schossen mit beeindruckender Geschwindigkeit auf die Polizisten zu. Einige von ihnen konnten sich rechtzeitig auf den Boden werfen oder hinter einem Auto Schutz finden. Andere jedoch hatten nicht so viel Glück. Gnadenlos bohrten sich die Stacheln in ihr Fleisch und erstickte Schreie erklangen. Der Polizist mit dem Megafon hatte sich hinter der offenen Fahrertür in Sicherheit bringen wollen, doch gebracht hatte es ihm nichts. Der Stachel hatte sich mit aller Kraft durch das Metall der Autotür gebohrt und ihn gleich mit aufgespießt. Mit einem dumpfen Geräusch landete sein Megafon auf dem Boden, während er mit schreckgeweiteten Augen auf seinen Bauch starrte, in den sich der Stachel gebohrt hatte.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now