Kapitel 54

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Kapitel 54

Ich hatte geglaubt, dass Kieran vor nichts Angst hatte. Doch da hatte ich mich wohl geirrt. „Das ist nicht lustig!", fuhr Kieran mich panisch an, der den Sitz noch immer nicht los ließ. Angespannt hatte er sich an die Lehne gedrückt. James drehte sich fragend zu uns um und ich konnte sein amüsiertes Lächeln sehen, als er sich Kieran ansah. „Wechselt den Fahrer!", schrie Kieran. „Wechselt den Fahrer, verdammt!"

„Schnauze!", kam es von Lucius. Kieran starrte Lucius böse an. Doch er sagte kein Wort. „Man gewöhnt sich daran.", verischerte James Kieran. „Irgendwann findest du Levis Fahrstil nicht mehr so schlimm." Er grinste und drehte sich wieder nach vorne. „Man gewöhnt sich daran!", äffte Kieran James verbissen nach. „Ja klar!"

„Was hast du denn auf einmal?", fragte ich ihn grinsend. Kieran bestrafte mich mit einem vernichtenden Blick. „Wenn du schon einmal bei einem Autounfall dabei warst, dann würdest du es wissen!", zischte er. Er wandte sich nach vorne. „Und jetzt fahr verdammt noch mal vorsichtiger!" Levi fuhr nun tatsächlich langsamer und auch vorsichtiger. Stumm sah ich Kieran an. Jetzt tat es mir leid, dass ich gelacht hatte. Ich fragte nicht weiter nach. Was genau passiert was und wer gefahren war und ob jemand gestorben war. Kieran musste es nicht erzählen. Natürlich war ich dennoch neugierig. Doch ich sagte nichts außer ein leises: „Tut mir leid." Kieran erwiderte daraufhin nichts. Er versuchte sich zu entspannen, was ihm auch gelang. Er wurde ruhiger. Seine Finger lösten sich aus dem Sitz. Das Leder war an diesen Stellen gerissen. Schweigend blickte Kieran aus dem Fenster. Niemand redete. Eine düstere Stimmung lag über uns allen. Es war ätzend. Wie sollte ich das nur aushalten bis wir bei den Laboren waren? Ich wusste nicht einmal wie lange wir dafür fahren mussten. Jo kramte in ihrem Rucksack und zog neun unbelegte Brötchen hervor. Sie reichte sie den Jägern und anschließen drehte sie sich zu uns um. „Hier. Zum Frühstück.", sagte sie. Als sie mir eines der Brötchen reichte, sah sie mich an. Sie wirkte unsicher, aber ich konnte keinen Hass in ihren Augen erkennen. Es überraschte mich, als ich Mitleid entdeckte. Es warf mich vollkommen aus der Bahn. Jo drückte mir mein Brötchen in die Hand, lächelte kurz und drehte sich wieder nach vorne. Jo konnte nett sein? War das noch die Jo, die ich von damals kannte? James, der meinen Blick bemerkte, grinste. „Sei froh. Zu Brenda ist sie nicht so nett." Dafür kassierte er von Jo einen Schlag auf den Hinterkopf. „Hey!", beschwerte sich James. „So schlimm bin ich nun auch nicht!", zischte Jo ihm zu und James lachte. „Ja, ja.", sagte er grinsend. „Komm schon, jeder weiß, dass Mikéle und du Brenda nicht leiden könnt." Es interessierte die beiden anscheinend überhaupt nicht, dass Brenda sie hören konnte. Doch sie war still. Sie reagierte nicht. Stumm blickte sie weiterhin geradeaus aus dem Fenster. Jo brummte. Sie widersprach James nicht. Sie verschränkte nur beleidigt ihre Arme vor ihrer Brust, woraufhin Mikéle leise lachte und ihr mit der Hand durch das dunkle Haar wuschelte. „Lass das!", fuhr Jo ihren großen Bruder an und schlug seine Hand weg. Mikéle jedoch lachte nur, wandte sich allerdings wieder nach vorne.

Levi lenkte den Wagen um eine Kurve. Wir fuhren durch die Londoner Straßen. Ich konnte meine Augen nicht von der Stadt lösen. Ich beobachtete die vielen Taxen, die Straßen, die Häuser. Selbst die vielen Staus störten mich nicht. So viele Menschen liefen hier herum. Und es schien alles so normal. Als gäbe es keine Mutanten. Als gäbe es keinen Krieg. Als wäre das alles niemals passiert. Sehnsucht machte sich in mir breit. Das hier war nur die Illusion eines perfekten, normalen Lebens. Die Mutanten befanden sich gefangen in den Häusern. Sie waren da. Ich wandte mich von dem Geschehen außerhalb des Wagens ab. Eine Ampel schaltete auf grün und Levi trat wieder auf das Gas. Die lange Autokette setzte sich in Bewegung. Hier und da ertönte ein lautes Hupen. Ich wollte nach Hause. Ich wollte wieder ein kleines Kind sein, dessen einziges Problem es gewesen war, nicht wieder an Jo zu geraten.

Kieran starrte genau wie Liam aus dem Fenster. „Sieh sie dir an.", sagte er verächtlich. „Sie tun so, als wäre nie etwas passiert. Als gäbe es uns überhaupt nicht." Seine Augen blitzten für einen Moment in einem wütenden, dunklem Rot auf. Ich sagte nichts. Liam, Kieran und ich dachten gerade alle an das Selbe. „Es sind Menschen.", murmelte Liam. „Was erwartest du?" Nach Liams Worten legte sich eine drückende Stille über alle Insassen des kleinen Busses. Alle Jäger hatten sich unwillkürlich angespannt und blickten starr geradeaus. Draußen wirkte alles so entsetzlich normal aus. Dieses mal wandte ich meinen Blick nicht ab. Manche der Menschen telefonierten, während sie zügig all die anderen überholten. Sie trugen irgendwelche schicken Sachen. Andere wiederum liefen ganz gemächlich vor sich hin und quatschten währen dessen. Mütter schoben Kinderwagen vor sich her. Touristen schossen lachend Bilder. Ich starrte sie alle einfach an. War nicht dazu in der Lage meinen Blick abzuwenden. „Schau nicht dahin, Frey.", murmelte Liam. „Das ist nicht gut für uns." Ich wendete meinen Blick ab. Liam hatte natürlich recht. Das wusste ich. Doch es war merkwürdig für mich eine solche Normalität zu sehen. Selbst wenn diese Normalität nur eine Illusion war.

„Wir sind gleich aus London raus.", informierte uns Levi irgendwann und fuhr wieder in eine Kurve. Häuser zogen an uns vorbei und wir ließen London hinter uns. Nun gab es nur noch eine Straße und keine Häuser. Andere Autos schossen an uns vorbei und Levi drückte auf das Gaspedal. Er beschleunigte. Kurz schielte ich zu Kieran, doch dieser bemerkte das nicht einmal. Sein Kopf lehnte an der Scheibe und schweigend blickte er hinaus. Er wirkte so, als würde er gleich einschlafen.

Städte rauschten an uns vorbei, Wälder, Dörfer, Flüsse. Die Sonne sank immer weiter nach unten und tauchte die Welt in ein orangenes Licht. Schon seit einigen Stunden hatte niemand mehr ein Wort gesprochen. Und vor kurzem hatten sich Levi und Mikéle mit dem Fahren abgewechselt. Nun saß Levi neben Jo und Mikéle lenkte den Bus von der Autobahn auf eine Landstraße. Die Augenlider wurden mir langsam schwer und mein Magen begann leise zu knurren. Das Mittagessen war schon eine Weile her. Levi hatte bei einem McDonalds gehalten und jedem von uns Burger, Pommes und Milchshakes geholt. Mein Kopf sank auf Liams Schulter und meine Augen fielen mir zu.

Als ich wider aufwachte war es bereits wieder Morgen. In der Nach hatten Levi und Mikéle wohl zweimal die Plätze getauscht, denn Mikéle saß wieder am Steuer. Er fuhr eine schmale, verlassene Straße entlang und eine eisige Ruine tauchte in meinem Sichtfeld auf. Ruckartig setzte ich mich auf und starrte die Ruine an. Meine Augen weiteten sich. Das Gebäude war noch immer voll von Eis! Es war nicht geschmolzen! Seit fünf Jahren nicht! Fünf Jahre lang war dieses Gebäude bereits vereist! Pflanzen schlangen sich um die vereisten und teilweise eingestürzten Wände. Das konnte nicht möglich sein! Wieso war mein Eis nach so vielen Jahren noch immer hier?

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now