Kapitel 53

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Kapitel 53

Er konnte auch nicht einfach nur dorthin gehen, damit wir uns alle verstecken konnten. Lucius war ein Jäger. Genau wie die anderen. Sie würden sich nicht verstecken, nur weil Kieran, Liam und ich dabei waren. Wir behinderten sie in ihrer Arbeit nur. Wieso also ging Lucius das Risiko ein und nahm uns mit? Wollte er uns vielleicht in den alten Laboren einsperren und so ihrer Tätigkeit weiter nachgehen? Das wäre doch unsinnig. Sie müssten immer wieder zurück kommen und könnten nicht allzu weit weg gehen. Außerdem würde es der Regierung auffallen, wenn Mutanten immer im selben Gebiet getötet werden würden. Also würde man dieses dann absuchen und auf die Labore aufmerksam werden. Es machte keinen Sinn. Aber vielleicht war das mit den Laboren nur eine Übergangslösung und die Jäger würden uns weiterhin mit sich mit schleppen. Dabei standen wir ihnen nur im Weg. Egal wie ich es drehte uns wendete, ich kam nicht auf die Lösung. Es konnte auch sein, dass ich mir zu viele Gedanken machte und nichts dergleichen Lucius' Plan war. Ich sollte wirklich aufhören darüber nachdenken zu wollen. Spätestens wenn wir uns in den Laboren befanden würde ich es herausfinden.

„Meinst du, dass in den Laboren vielleicht doch noch Leute sind?", fragte Liam mich leise, damit es auch niemand anderes mitbekam. Ich schüttelte auf seine Frage hin meinen Kopf. „Wer sollte denn noch dort sein?" Ich schob einen Zweig beiseite. „Du weißt doch, dass dort alles vereist wurde. Alle Maschinen sind kaputt und die Spritzen unbrauchbar." In Gedanken versunken blickte ich verbittert auf den Waldboden. „Es gibt dort nichts mehr. Es ist eine Ruine." So viel Eis wie damals, bei meiner Flucht, hatte ich niemals mehr frei gelassen. Und ich wusste nicht, ob ich es noch einmal tun würde. Klar, ich hatte uns befreit, aber was hatte das schon gebracht? Ja, die Experimente wurden eingestellt. Aber wir wurden gefangengenommen, getötet, als Sklaven gehalten oder als Soldaten in den Krieg geschickt. Liam beugte sich unter einen Ast hindurch. „Du weißt genau, dass du nicht Schuld daran bist, dass wir in die nächste Katastrophe gelaufen sind.", sagte Liam. „Du konntest nicht wissen, was passieren würde. Und du hast uns gerettet. Ob du nun willst oder nicht." Schweigend lief ich neben ihm her. Gerettet. So sah er es also. Nun gut. Plötzlich hielten die Jäger an und starrten geradeaus. „Da ist eine Straße.", informierte mich James, wofür er einen bösen Blick von Lucius kassierte. Doch James ignorierte das. Eine Straße. Ich schluckte. Fielen wir nicht auf? Es kamen immerhin nicht jeden Tag neun Personen aus dem Wald gestolpert, von denen drei Ketten hinter sich her schleifte. Ich hörte Autos vorbei fahren, Kinder die lachten und Erwachsene, die schimpften. Ich war schon lange nicht mehr wirklich unter Menschen gewesen, mal von Audra, Aldric und den Jägern abgesehen. Öffentliche Orte hatte ich jahrelang gemieden. Vor allem tagsüber. Ich sah hektisch zu Liam, der mich ebenso ansah. Kieran hatte es da einfacher. Der konnte einfach so aussehen, als sei er normal. Und genau das tat er. Ich konnte zusehen, wie er seine Farben änderte, sodass seine Augen normal aussahen. Er hatte die Farbe braun gewählt und auch seine Haut sah nun normaler aus. Man hätte ihn für einen normalen Jungen halten können, würde er nicht so verbissen gucken und wären da nicht diese Ketten, die seine Hände fesselten und ihn mit Liam und mir verband. Ich spürte Luicus' Blick auf mir. Allerdings mied ich es, ihn anzusehen. „Halte deinen Kopf gesenkt.", sagte Mikéle. „Und achte darauf, dass niemand deine Haut und deine Haare sieht. Er prüfte noch einmal kurz, ob meine Haare auch nicht aus der Kapuze rutschten und zupfte die Jacke wieder zurecht. Er sah nicht ganz sicher aus. „Es muss reichen.", sagte er mehr zu sich selbst, als zu mir. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. „Bleib einfach zwischen Kieran und mir.", raunte Liam mir zu. „Ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert." Er sah fragend zu Kieran, als würde er eine Bestätigung wollen, die Kieran ihm auch mit einem knappen Nicken gab. Ich hatte nicht das Gefühl, als würden sich Liam und Kieran großartig verstehen. Doch beide rissen sich zusammen. Für mich. „Gut.", sagte Lucius. „Dann wollen wir mal." Er war der Erste, der die Deckung des sicheren Waldes verließ und auf den Fußgängerweg trat. Eine Mutter, die ihr kleines Kind an der Hand hielt, zog ihre Tochter überrascht zurück und sah Lucius fragend an. „Entschuldigung.", sagte Lucius mit einem Lächeln. „Ich wollte Sie nicht erschrecken." Er lächelte die Frau entschuldigend an, die daraufhin auch lächelte. „Kein Problem.", meinte sie. „Es ist ja nichts passiert." Sie und ihre Tochter gingen weiter. Schnell winkte Lucius uns zu sich. Acht Personen traten nacheinander aus dem Wald und ich konnte einen kleinen Jungen sehen, der uns stirnrunzelnd beobachtete und dabei sein Spielzeug sinken ließ. Sein Blick fiel auf unsere gefesselten Hände. Ich bemerkte, wie er zurückwich und sich hinter dem Zaun eines Hauses versteckte und uns von dort aus weiterhin beobachtete. So viel zum Thema „nicht auffallen". Man hätte unsere Fesseln irgendwie auch verstecken oder entfernen sollen. Nun war die Straße leer. Kein Auto kam angefahren, kein Fußgänger lief den Weg entlang. Selbst hinter den Fenstern der Häuser war nichts zu sehen. Lucius sah sich verstohlen um. Er nickte Levi zu, der ihm wortlos folgte, als die beiden auf einen weißen Kleinbus mit getönten Fensterscheiben zu liefen. Levi zog irgendetwas aus seinem Rucksack und verschwand aus unserem Blickfeld auf die andere Seite des weißen Fahrzeuges. „Was machen die da?", fragte ich flüsternd. Ich wusste nicht einmal weshalb ich eigentlich flüsterte. Es war ja nicht so, als ob hier irgendwer außer uns war. „Ich glaube, sie knacken das Auto.", vermutete Kieran, dessen Augen pausenlos umherwanderten, als erwartete er, dass wir jederzeit angegriffen werden würden. Und das war sogar nicht einmal so unwahrscheinlich. Auf einmal sprang knatternd der Motor an und ich erblickte meinen Bruder, der an der Fahrerseite saß. Durfte er denn eigentlich schon Autofahren? Hatte er schon seinen Führerschein? Ich hätte am liebsten über mich selbst meinen Kopf geschüttelt. Lucius war ein Jäger. Er verstieß allein dadurch gegen ziemlich viele Regeln. Da machte es nun auch nichts mehr aus, wenn er auch ohne Führerschein Auto fuhr. Allerdings war ich ziemlich überrascht, als Lucius auf den Beifahrersitz weiter rutschte und somit Levi Platz machte. Dieser schloss die Fahrertür und schnallte sich an. „Kommt.", sagte James und zog die Schiebetür auf. Vor uns erstreckten sich zwei weitere Sitzreihen mit jeweils drei Sitzen. Mikéle schob uns auf die letzte Sitzreihe zu und James schnallte uns irgendwie an. James ließ sich dann auf einen der Plätze vor uns fallen. Brenda, die bisher noch nicht ein Wort gesagt hatte, stand wie angewurzelt vor dem Bus. Mikéle verdrehte seine Augen. „Was ist denn jetzt schon wieder los?" Seine Stimme klang genervt. Brenda presste ihre Lippen fest aufeinander. Sie wagte es nicht jemanden anzusehen. „Ich will nicht in seiner Nähe sitzen.", flüsterte sie dann. „Ich will nicht." Mir war sofort klar, dass sie Liam meinte. Meine Augen huschten zu ihm. Wie reagierte er darauf? Liam schien es gleichgültig zu sein, denn er beachtete Brenda nicht einmal. „Dann geh halt nach vorne. Da ist noch ein Platz frei zwischen Lucius und Levi.", sagte Mikéle sichtlich genervt. Er ließ Brenda nach vorne und setzte sich mit Jo zu uns nach hinten. Mit einem Ruck zog er die Schiebetür zu, die krachend ins Schloss fiel. Brenda sagte keinen Ton. Still saß sie zwischen meine Bruder und Levi vorne. Sie kam mir nicht so vor, als würde sie Liam hassen, doch sie konnte es nicht verkraften, was er war. Und sie war noch immer in ihn verliebt. Erbärmlich. Sollte sie doch schmollen. Auf einmal drückte Levi auf das Gaspedal und der Wagen beschleunigte schneller, als ich es erwartet hatte. Wir wurden alle plötzlich in den Sitz gedrückt und da schoss der Wagen auch schon über die Straße. „Und der hat den Führerschein?", schimpfte Kieran. „Dass ich nicht Lache! Haltet an, verdammt!" Er hatte seine Finger in das schwarze Leder des Sitzes gekrallt und fassungslos starrte er nach vorne. Ich lachte laut auf. Es war ein zu komischer Anblick, als dass ich es hätte unterdrücken können. Kieran hatte tatsächlich Angst. Angst um sein Leben. Dabei hatte er nicht einmal vor den Agenten Angst gehabt.

Freya Winter - MutantWhere stories live. Discover now