Lass jetzt los[Sie]

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Erste Schultage sind immer ein Graus. Die Vorstellungen in den verschiedenen Kursen, das Alleinsitzen in der Mittagspause, das Angestarrt werden. Meine Schwester ist daran eine echte Meisterin. Sie hat sofort eine Menschentraube um sich versammelt, die gespannt ihren Geschichten von all den Orten lauschen, an denen wir schon gelebt haben. Jedes Mal wenn ich höre, wie sie davon erzählt, verpasst es mir Stiche. Sie sagt zwar, dass ihr das Umziehen nichts ausmacht, aber ich weiß, dass das nicht die Wahrheit ist. Nicht ganz. Niemand kann es toll finden. Ich hasse es.

»Ihr seid echt in den Winterferien hierhergezogen? Mitten im Schuljahr?«, fragt ein Mädchen mit einem ganzen Busch an Haaren gerade meine Schwester, als ich vorbeilaufe. Wirklich wahr, sie hat mehr rote Locken auf dem Kopf, als ich je gesehen habe.

Anna nickt. »Die Arbeit unseres Vormundes.« Das ist unsere Erklärung. Dass Olaf der Arbeit wegen oft umziehen muss. Dass Olaf in Wahrheit ein Schneemann ist und durch einige magische Zaubertricks in Menschengestalt bleibt, ist vielleicht auch einer der Gründe, wieso wir immer wegziehen.

Einmal hat er vergessen, seine Medikamente zu nehmen. Zauberkräuter, die eine gütige Hexe uns gemixt hat. Ich war noch zu klein, gerade einmal zwölf. Unsere Eltern waren gerade gestorben und ich wünschte mir so sehr, dass es einen Erwachsenen gibt, der uns beschützen kann. Olaf entstand. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, wie groß meine Kräfte wirklich waren. Die Hexe gab uns die Kräutermischung, die ihn in einen Menschen verwandelt. Wenn er vergisst, sie einzunehmen, wird er wieder der kleine Schneemann mit der Karottennase. Kommt nicht gut an in einer Nachbarschaft.

Ich schaue wieder nach vorn und lasse das Tablett mit dem Essen achtlos auf einem Tisch stehen. Mir ist der Appetit vergangen und vielleicht bekomme ich ihn diesmal gar nicht mehr zurück. Tränen steigen in meinen Augen empor, wollen hinaus, doch ich blinzle, während ich immer schneller laufe. Es gibt nichts Schlimmeres als am ersten Tag an einer neuen Schule zu weinen. Außer vielleicht direkt in jemanden hineinzulaufen, der am Ende der Cafeteria steht.

»Entschuldigung«, murmle ich abwesend und weiß, dass ich hier weg muss. Die Kälte kriecht langsam durch meine Venen und Adern, ergreift Besitz von meinen Armen, meinen Fingerspitzen. Wenn ich nicht gleich hier wegkomme ...

»Du siehst mich?«

The past is so behind meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt