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„Das Leben ist wie ein Buch. Es hat verschiedene Kapitel, manche sind gut, manche will man am liebsten überspringen. Es gibt Personen die man hasst, aber auch welche die man liebt. Es gibt dünner Bücher, aber auch nicht endende Romane. Solange man den Himmel sieht, und sie Sterne scheinen, geht das Buch weiter. Doch irgendwann wird es zu Ende gehen. Alles hat ein Ende."

Dr. Chaplin schrieb etwas in ihr Buch, das sie auf dem Schoss liegen hatte. Ich war nun schon seit einer Stunde hier und diese Stunde würde ich nie wieder bekommen... Diese Frau, ich wusste einfach nicht wie sie zu ihrem Beruf kam, aber als Psychologin sollte man doch was Menschen verstehen. Doch sie, sie verstand absolut gar nichts!

„Willst du alle für dich vorgesehen Kapitel lesen?" Ihre Stimme, noch nie hatte ich so eine fürchterliche Stimme gehört. Immer auf derselben Tonlage, immer emotionslos. Wenn man mit ihr sprach fühlte man sich wie ein Experiment. Dr. Chaplin war Mitte 40, aber dies sah man ihre nicht an. Die langen dunkel blonden Haare waren zu seinem strengen Zopf zusammen gebunden. Ihr dürrer Körper war in einen enganliegenden Rock mit weißer Bluse gehüllt.

„Für mich vorgesehen? Ich denke nicht dass es da schon Vorgaben gibt, weil ich sie selber schreiben muss", antwortete ich. „Also hast du selbst das Kapitel deiner Entführung geschrieben?", fragte sie und schlug einen Fuß über den anderen. „Ja, wenn man es genau nimmt schon. Aus Taten folgen weitere Taten." Wieder schrieb sie was in dieses Buch. Es war Rot und auf der Seite war ein Streifen mit meinem Namen darauf geklebt.

In den ersten Fünf Minuten dieser Stunde war mir sofort das weiße Regal am Ende des Raumes aufgefallen. Es war lang und hatte immer zwischen drinnen ein paar Schubladen. In den weißen Ablagen standen immer die gleichen Bücher, nur manche waren Blau. Wie bei meinem standen am Rand die Namen der Patienten. „Hast du denn etwas getan was zu deiner Entführung führte?", fragte sie und schaute mich durchdringlich an.

„Man kann nie genau sagen welche Tat zur nächsten führt. Vor allem in meinem Fall ist dies sehr unwahrscheinlich. Ich kannte Leo mein halbes Leben. Einen langen Zeitraum um Taten zu begehen, finden sie nicht?" Wenn ich mit ihr redete, ich wusste nicht warum, klang ich immer mutig, besserwisserisch und frech. Sie ignorierte meine Frage gekonnt und schob mir ein Blatt Papier und einen Stift entgegen.

„Soll ich jetzt ein Bild malen wie ich mein Leben finde?", lachte ich spöttisch. Dr. Chaplin erhob leicht den Kopf. „Stelle dir vor du bist noch immer in dem Raum, in dem du gefangen warst. Stelle dir vor, du würdest nie wieder raus kommen. Du hast die Chance einen Abschiedsbrief zu schreiben. Schreibe ihn", sie bückte sich vor uns schob das Blatt noch weiter zu mir. Ich wusste dass es mir psychisch gut ging, aber ich musste sie davon überzeugen.

Die Träume von Jana waren nur Träume. Doch das war nicht wie bei einem Test in der Schule. Im psychologischen Bereich kannte ich mich nicht aus, weshalb ich nicht wusste was das Richtige war. Sollte ich einen auf mitgerissen tun? Oder doch eher auf strak und tapfer? Mit einem Seufzer fing ich an zu schreiben...

Liebe Mama, lieber Papa.

ich sitze hier und weiß das ich nicht lebend wieder rauskommen werde. Ich kann nicht in Worten fassen, wie sehr ich euch liebe. Es ist ein komisches Gefühl zu wissen dass dies das letzte ist, was ihr von mir hört. Ihr müsst wissen dass ich eine wunderschöne Kindheit hatte. Danke für eure Liebe, eure Zeit, und alles was ihr für mich getan habt.

Eure Lucy

Dr. Chaplin las den Brief einmal durch, faltete ihn zusammen und legte ihn in das Buch. „Wenn das die letzten Worte, deine letzten Gedanken, an deine Eltern wäre, würdest du wirklich das schreiben? Du hättest noch eine ganze Seite." Fragte sie misstrauisch. „Nein, vermutlich nicht, denn ich möchte mir nicht vorstellen zu sterben. Warum sollte ich auch? Ist ihr Beruf nicht da um Freude am Leben zu wecken? Wenn ich wirklich in so einer Situation wäre, würde ich anders schreiben", antwortete ich etwas kalt.

„Mein Beruf ist da, um Leuten mit Problemen zu helfen", sagte sie ruhig. „Ich habe keine Probleme, danke." Diese Frau konnte eigentlich nichts dafür, aber ich mochte sie nicht. „Beschreiben Sie in drei Worten was Sie von dieser Sitzung halten", befahl sie mir.

„Unnötig. Zeitverschwendung. Hoffnung." Sie schaute mich interessiert an. „Hoffnung?" Ich beugte mich leicht zu ihr vor und flüsterte: „Hoffnung darauf das es die erste und letzte war." Sofort schwand das in ihr geweckte Interesse.

„Hören Sie, mir geht es gut, ich bin nicht aus Zucker", gab ich bissig von mir. „Sie wussten es", sagte sie auf einmal. „Wie bitte?", fragte ich genervt nach. „Sie wussten das so etwas in der Art passiert. Sie waren emotional halbwegs darauf vorbereitet - auf ihre Entführung. Jetzt stellt sich nur die Frage, was eine 18 Jährige tun kann um in so etwas hinein zu geraten."

Dieses Gespräch erinnerte mich etwas an das mit den Jungs auf dem Pausenhof heute Morgen. „Also wissen sie dass es mir gut geht?", fragte ich nach und ging nicht auf ihre Wort ein. „Körperlich ja, aber etwas in ihrem Leben sollte nicht sein. Ich kenne Patienten wie Sie. Sie sind genervt hier zu sein, und denken ich wüsste von nichts bescheid. Sie möchten mir nichts erzählen weil ich eine Fremde für Sie bin. Wissen Sie was? Sie müssen mir nichts sagen. Aber ich rate Ihnen dringend herauszufinden was da nicht sein sollte. Wenn sie es wissen, versuchen sie es loszuwerden. Wenn sie dann reden wollen, können sie jeder Zeit wieder kommen."

Sie klappte das Buch zu, stand von dem schwarzen Ledersessel auf, und legte es in das Regal zu den anderen. Zugegeben, ich war leicht geschockt. Auf jeden Fall wusste sie was ich von ihr dachte. „Okay... Dann geh ich mal", sagte ich leicht perplex. „Auf Wiedersehen", verabschiedete sie sich. „Tschüss", sagte ich und verließ die Praxis.

Draußen war es noch angenehm warm. Mein Auto parkte auf dem Parkplatz, doch eigentlich hatte ich Lust zu laufen. Da ich es ja nicht einfach stehen lassen konnte, stieg ich ein und fuhr los. Mich würde mal interessieren was man in einem Psychologie Studium so lernte. Ich wollte nichts von mir und meiner Seele preisgeben, und doch wusste sie alles. Zuhause ging ich zuerst einmal in die Küche. Der Hunger plagte mich schon seit ich zur Sitzung losgefahren war.

„Lucy, wie war es?", fragte meine Mutter, die plötzlich im Türrahmen stand. „Ich bin psychisch gesund, und trage keine Schäden von der Entführung", sagte ich stolz, auch wenn Dr. Chaplin es nicht gesagt hatte. Erst jetzt war mir aufgefallen das sie zwei Tassen in der Hand hielt. „Ist Papa da?", fragte ich schockiert. Er wollte damals dass ich zur Therapie gehe, diesen Sieg wollte ich ihm nicht gönnen.

„Nein, Margret Collins. Sie wollte zu dir und sitzt im Wohnzimmer. Wir haben einen Tee zusammen getrunken", erklärte sie. Meine Mutter und ihr Tee... Eine nie endende Liebe. Margret. Sie dachte dass Leo der Mörder von Jana war! Sollte ich es ihr sagen? Ja, sie hatte mir geholfen, als ich es nötig hatte. Langsam betrat ich unser Wohnzimmer.

„Hallo Lucy", begrüßte sie mich. Margret saß auf unserem Sofa, stand aber auf um mich zu umarmen. „Hallo, wie geht es dir?", fragte ich sie. „Gut, jetzt wo die Wahrheit draußen ist", lächelte sie. „Und wie geht es dir? Kommst du damit klar?", fragte sie zurück. „Auch gut, ich bin innerlich zur Ruhe gekommen, jetzt da ich weiß wer es war." Ja, sie hatte mir geholfen, als ich es nötig hatte, und genau deswegen verdiente sie es glücklich weiter leben zu können...

„Gut, das ist schön. Ich wollte mich eigentlich nur von dir verabschieden", sagte sie leise. Verdutzt schaute ich sie an. „Ich möchte die Welt erkunden, und welcher Zeitpunkt wäre besser geeignet als dieser?", lächelte sie. „Aber...", stammelte ich. Doch ich erinnerte mich an das was ich zu Dr. Chaplin sagte. >Das Leben ist wie ein Buch<. Margret wollte es lesen.

„Mein Flug geht heute Nacht, er war sehr billig", grinste sie. „Wo geht es denn hin?", wollte ich wissen. „Jamaica, ich habe gehört da kann man ohne Probleme an einen Joint kommen", zwinkerte sie. Margret, wie sie lebt und liebt.

„Lucy, ich wünschte ich könnte noch länger mit dir quatschen, aber die Zeit wird knapp", sie stand auf und lächelte mich nochmal an. „Jetzt kannst du dein Leben genießen." Tränen kullerten meine Wangen hinunter. Ruckartig sprang ich auf und umarmte sie. „Danke, danke für alles. Ohne dich... Ich weiß nicht wo ich jetzt wäre", schluchzte ich. „Aber, aber. Nicht weinen! Du bist doch sonst so stark. Wir werden uns wieder sehen, das weiß ich." Ich begleitete sie noch zur Tür. „Du möchtest dieses Abenteuer alleine erleben?", fragte ich noch unsicher. „Nein, Earl aus meinem Bingo Club geht mit. Er ist wirklich heiß für sein Alter", lachte sie. Ich würde sie vermissen, das war mir klar. Wir beide wussten dass es jetzt nichts mehr zu sagen gab, weshalb Margret in ihren VW stieg und weg fuhr. Ich hatte dieser Frau so unendlich viel zu verdanken. „Ich wünsche dir ein schönes Leben Margret", flüsterte ich noch, obwohl sie schon längst frei war.

Little SecretsWhere stories live. Discover now