„Vielleicht sollten wir erst einmal aufhören, das alles mitten in der Nacht erklären zu wollen", schlug Lasse vor. Er gähnte zur Bestätigung. „Das bringt nicht nur unseren Schlaf durcheinander und Denken kann man da auch nicht wirklich."
„Ich konnte nicht beeinflussen, dass ich mitten in der Nacht aufgewacht bin und einfach losgehen musste", entschuldigte sich Quintessa. „Ach, dich meinen wir damit noch nicht einmal", erwiderte Benno und warf Avli und Xenia einen vielsagenden Blick zu. Die beiden Drachen grinsten verlegen.
„Jetzt beschwert euch nicht", mahnte Dorothea. „Als ob wir alle so artig sind und mitten in den Ferien um acht ins Bett gehen." „Trotzdem finde ich Lasses Vorschlag nicht verkehrt", sagte Benno. „Wir müssen jetzt systematisch vorgehen. Es ist jetzt so viel passiert, aber wir kommen nicht wirklich voran."
„Was heißt ‚systematisch'?", wollte Quintessa wissen. „Wir brauchen einen Ansatz", erklärte Lasse. „Von da aus müssen wir dann versuchen, alles andere in einen Zusammenhang zu bringen. So gesehen haben wir ja schon ein paar Ansätze und Zusammenhänge, aber etwas ganz Wichtiges fehlt noch." „Was denn?", fragten die beiden Drachen wie aus einem Mund. „Die Ursache", überlegte Dorothea. „Vielleicht wären wir schon ein großes Stück weiter, wenn wir wüssten, warum das alles passiert."
Das Mädchen breitete die angefangenen Geschichten, die sie bereits in dieser Welt gefunden hatten, auf dem Boden aus. „Bisher ist der einzige Zusammenhang, dass alle diese Geschichten vom Graphen geschrieben wurden", erkläre Benno. „Jetzt sind sie also alle in eurer Welt", wiederholte Quintessa, um sicherzugehen, dass sie das alles richtig verstanden hatte, was ihr mitten in der Nacht noch erzählt worden war. „Ihr wisst nicht warum da auf einmal dieser Freizeitpark oder ich war?"
Dorothea und die beiden Jungen schüttelten den Kopf. „Auf dem Papier stellen sie einzelne Geschichten dar", vermutete Benno. „Inzwischen haben sich aber auch schon einige vermischt. Sylvain und die Schwarzen Männer haben an sich nichts miteinander zu tun." „Wie es den Leuten im Freizeitpark wohl geht?", warf Avli ein. „Es ist inzwischen schon wieder ein paar Tage her, dass wir dort waren."
Erschrocken hielten Dorothea, Benno und Lasse die Luft an. „An Sylvain haben wir gar nicht mehr gedacht", meinte Lasse. „Erzählt haben wir von ihm, aber nicht, ob die Schwarzen Männer nicht doch schon kurzen Prozess mit den Freizeitparkbewohnern gemacht haben." „Denkt ihr, dass sich Buchfiguren gegenseitig umbringen könnten?", zweifelte Quintessa. „Sicher können wir uns nicht sein", antwortete Benno. „Xenia und ich würden uns bereit erklären, uns als Spione in den Park zu schleichen", bot Avli an. „Dann können wir sichergehen, dass es Sylvain und den anderen gutgeht."
„Eine sehr gute Idee", fand Dorothea. „Spion Avli und Spionin Xenia, ich beauftrage Sie hiermit, den Freizeitpark zu inspizieren. Alle Hinweise werden nach Ihrer Rückkehr umgehend gemeldet." „Aye aye, Ma'am!" Avli salutierte und schlug die Hacken zusammen. „Wir machen uns sofort los, dann sind wir heute Abend bestimmt wieder zurück." „Viel Glück", rief Quintessa den beiden Drachen hinterher. Heute Morgen, als alle aufgewacht waren, hatte Dorothea das Mädchen aus dem Haus geschmuggelt und sie schließlich durch die Eingangshalle wieder hereingeholt.
Für Ludmilla, Giorgio und Louis war sie Quintessa, eine Klassenkameradin von Dorothea. Die Haushälterin hatte sich über den Besuch gefreut, Giorgio hatte sich mit ihr versucht über Italien zu unterhalten, was aber daran scheiterte, dass Quintessa nicht wusste, was Italien war. Dorothea hatte sich schnell etwas einfallen lassen, um sie nicht auffliegen zu lassen. Louis hatte sich nur darüber gewundert, warum Dorothea noch nie etwas von ihr erzählt habe. Das war aber auch der einzige Zweifel, der den anderen Schlossbewohnern an dem Mädchen gekommen war. Giorgio hatte ihnen nur noch mit einem Augenzwinkern gesagt, keine Dummheiten zu machen. Onkel Mattse war in der Stadt gewesen, ihm würden sie Quintessa später noch vorstellen.
Benno war froh, dass sie keinen Verdacht geschöpft hatten. Für die nächsten Tage würde Quintessa in einem anderen Gästezimmer schlafen, das Bett hatte Dorothea inzwischen wieder so hergerichtet, dass nicht mehr auffiel, ob jemand darin geschlafen hatte. „Das ist wirklich schwer zu sagen", meinte Dorothea gerade und Benno richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das aktuelle Geschehen. „Können wir sicher sein, dass sich die Buchfiguren nicht gegenseitig umbringen?"
„Wir wissen ja nicht, wo die Grenzen liegen", überlegte Lasse. „Was für Grenzen?", wollte Quintessa wissen. „Der Graf hat euch sozusagen erschaffen", versuchte Dorothea, es zu erklären. „Das weiß ich ja schon", stimme das andere Mädchen zu. „Er hat euch den Charakter gegeben, den ihr habt, euer Aussehen und eure Fähigkeiten." „Denkst du, dass die Figuren nur die Eigenschaften und Fähigkeiten haben, die mindestens einmal im Text erwähnt werden?", fragte Benno. Dorothea nickte. „Wenn im gesamten Buch nicht einmal auftaucht, dass die Figur sehr gut malen kann, dann kann sie es also auch nicht", versuchte sie sich an einem Beispiel. „Wenn also der Graf nicht geschrieben hat, dass diese Schwarzen Männer nicht wissen, wie man jemanden umbringt, dann brauchen wir uns um Sylvain keine Sorgen zu machen?", schlussfolgerte Quintessa. Die anderen nickten. „Was ist mir mir? Was kann ich alles? Was kann ich nicht?"
„Probieren wir es aus", schlug Lasse gerade vor, als Ludmillla ins Zimmer platzte. „Ich soll euch nur sagen, dass Matthias wieder im Haus ist. Der Architekt ist auch wieder da. Außerdem hat der Verlag angefragt, ob es schon Fortschritte gibt. Das Programm für den Winter soll bald an die Buchhändler geschickt werden und wenn noch ein Buch des Grafen aufgenommen werden soll, bräuchten sie es in den nächsten sieben Tagen." „Dann wird es nichts mit dem Winterprogramm", meinte Dorothea. „Wir sind immer noch am Sortieren. Fortschritte gibt es noch nicht wirklich." Ludmilla nickte mitfühlend, als könne sie genau verstehen, wie schwer die Arbeit war.
„Ich habe mich nie wirklich getraut, hier herumzuschnüffeln", gab sie zu. „Es hat mich oft in den Fingern gejuckt, mal eine der Geschichten zu lesen, die die Welt erst Monate später oder gar nicht erst zu lesen bekommen würde. Allerdings lagen in den Schränken so viele Manuskripte herum, da hätte ich gar nicht gewusst, wo ich anfangen sollte, also habe ich es ganz gelassen." „Jetzt darfst du ja herumschnüffeln, ohne, dass jemand etwas sagt", grinste Benno. Die Haushälterin grinste zurück. „Wenn ihr noch Kekse oder was Anderes wollt, sagt mir einfach Bescheid."
„Kekse klingen gut", fand Dorothea. Die anderen, auch Quintessa, nickten bestätigend. „Ich bin sofort wieder da", verkündete Ludmilla und verschwand. „Was sind Kekse?", fragte Quintessa sofort danach. „Etwas, was du an unserer Welt lieben wirst", verkündete Dorothea. „Vor allem, wenn sie von Ludmilla gebacken sind." „Dann wäre das das erste, das Quintessa nicht kennt", zählte Benno auf. „Kekse hat es bei uns nie gegeben", erklärte Quintessa. „Immer nur die hochtrabende Küche am Schloss."
„Du wirst die hochtrabende Küche nicht mehr missen wollen, wenn Ludmilla erst einmal aufgetischt hat", versprach Lasse. Ludmilla kam auch kurz darauf wieder, eine Schüssel mit verschiedenen, selbstgebackenen Keksen und etwas zu trinken. „Lasst es euch schmecken", sagte sie. „Matthais und der Architekt kommen gleich, um sich diesen Teil des Schlosses einmal anzugucken. Das dürfte euch aber nicht weiter stören." Die vier schüttelten die Köpfe und bedankten sich.
„War der Architekt nicht der, der dem Psychologen aus der Zeitung so ähnlichsah?", fragte Benno. Dorothea nickte. Keinen Moment später hörten sie die Schritte der beiden Männer auf dem Flur.
***
Ich hoffe, euch gefällt das Buch immer noch. Irgendwie hab ich das Gefühl, ich langweile euch... in den nächsten Kapiteln wird die Handlung etwas angezogen, versprochen!
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Thunderstorm - Das Vermächtnis (Buch II)
FantasySie hätte doch nicht gehen sollen. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, sie wäre geblieben. Aber dann hätte sie Fragen beantworten müssen, deren Antworten sie selbst nicht kannte. Benno, Lasse, Dorothea und Avli Amil haben das Rätsel um die g...