V I E R.E I N S

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„Aber irgendwo muss es doch herkommen", meinte Dorothea. „Aus nichts kann schließlich nichts entstehen." „Es war aber wirklich auf einmal da", beteuerte das Drachenmädchen verzweifelt. „Was hast du denn hier gemacht?", fragte Lasse. Xenia druckste ein bisschen herum. „Als ich bemerkt habe, dass ihr schon weggefahren seid, war mir langweilig", erklärte sie. „Dann bin ich hier ins Büro gegangen, um mich irgendwie zu beschäftigen."

Sie bat Benno, sie wieder auf den Schreibtisch zu heben. Dort nahm sie einen Bleistift und ein Blatt Papier zur Hand. „Ich weiß nicht warum, aber ich hatte plötzlich Lust, etwas zu malen", fuhr sie fort. Mit dem Bleistift, der für ihre kleinen Hände viel zu groß war, begann sie zu zeichnen. Die kleinen Striche formten schnell eine Blume, genauso eine, wie sie schon zu Hauf im Büro herumlagen. Sie schienen aus dem Boden zu sprießen, bedeckten das Bett, wandten sich an den Möbeln hinauf. Die Jugendlichen hatte fast der Schlag getroffen, als sie es gesehen hatten. Vorsichtig hatten sie auf dem Boden die Blumen zur Seite geräumt, wobei sie feststellten, dass sie echt waren.

Echte Blumen, wie aus dem Garten. Xenia hatte inzwischen ihre Zeichnung beendet und blickte nun abwartend das Blatt Papier an. Lasse wollte schon dazu ansetzen, zu fragen, was denn jetzt geschehen solle, als die Blume blau zu schimmern begann. Wie von selbst wurde die Blüte blau und auf einmal tauchte sie neben dem Blatt auf. In echt. Eine weitere echte Blume. Mit weit aufgerissenen Augen starrten die anderen das Schauspiel an. „Diese... Ist die jetzt... direkt vom Blatt... auf den Schreibtisch?", stotterte Benno.

Xenia nickte. „Und so sind alle Blumen hierhergekommen!" Für einen Moment konnte keiner glauben, was da so eben passiert war. „Du hast also Blumen dort gezeichnet und auf einmal tauchten sie hier auf?", fragte Dorothea. Wieder nickte Xenia und hielt zur Bestätigung ein Blatt hoch, auf dem unzählige Blumen zu sehen waren. Seufzend ließ sich Dorothea auf das Bett fallen. „Ich würde mich ja jetzt wie in einem Musikvideo fühlen", sagte sie. „Irgendeine Ballade trällern, während ich hier in einem Meer von Blumen liege." Quintessa betrachtete das andere Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen. „Sollten wir stattdessen nicht überlegen, warum das passiert ist?", fragte sie.

„Weil Xenia sie gezeichnet hat", antwortete Avli wie aus der Pistole geschossen. „Das haben wir doch eben gesehen." „Nein, ich meine etwas Anderes", widersprach Quintessa. „Zeichne noch etwas Anderes", forderte Benno. „Irgendwas Kleines. Nicht, dass noch ein Flügel von der Decke fällt." Wieder begann Xenia zu zeichnen. Als sie fertig war, dauerte es einen Moment, bis der Gegenstand auf dem Papier zu schimmern begann. Dann stand eine Vase auf dem Schreibtisch. „Die reicht aber nicht für alle Blumen aus", meinte Lasse. Xenia wollte schon dazu ansetzen, weitere Vasen zu zeichnen, als er rief: „Nein, lass es lieber! Das war nicht ernst gemeint."

„Soll ich noch etwas malen?", fragte Xenia in die Runde. „Ein Kleid", antwortete Quintessa. Sie hatte sich einen Weg zum Fenster gebahnt und lehnte an der Fensterbank. Xenia nickte. Dieses Mal dauerte es länger, doch plötzlich hielt sie ein orangefarbenes Kleid in der Hand. Sie faltete es auseinander und betrachtete es. Xenia hatte es so gemalt, dass es bis zum Boden reichte. „Es sollte dir passen", meinte Xenia zurückhaltend. „Danach sieht es aus", stimmte Dorothea zu, die sich aufgerichtet hatte und jetzt dabei zusah, wie Quintessa das Kleid überstreifte. „Du siehst gut aus", meinte Benno.

„Danke", antwortete das Mädchen und wirkte etwas abwesend. Sie drehte sich einmal um sich selbst, das Kleid schwang mit. „Der Stoff ist echt", verkündete sie. „Das ist ein Kleid, wie es der Schneider im Schloss auch machen würde." „Oder wie man es in der Stadt für viel Geld kaufen könnte", ergänzte Dorothea. „Was folgt daraus?"

„Dass alles, was Xenia gemalt hat, echt wird", erklärte Benno. Die anderen nickten. „Das ist verrückt", murmelte Lasse. „Jetzt sind wir doch aber schon einen großen Schritt weiter", fand Avli. Fünf Augenpaare waren auf den kleinen Drachen gerichtet. „Sherlock Avli, bitte klären Sie uns auf", forderte Lasse.

Dorothea begann derweil auf dem Bett, einen Blumenkranz zu flechten. „Der Graf hat doch alle seine Bücher hier geschrieben", begann Avli mit seinen Erklärungen. „Das heißt, aus irgendeinem Grund auch immer, können Figuren real werden. Also auch einzelne Charaktere bis hin zu ganzen Welten, die bisher nur auf dem Papier existierten. Hinzu kommt noch, dass die Charaktere, wie Quintessa zum Beispiel, auf der Suche nach ihrer Identität sind, wenn man es denn so ausdrücken kann. Somit sind beste Voraussetzungen geschaffen, dass sie ihre Welt aus den Büchern verlassen und zu uns kommen." „Sylvain, der endlich den Freizeitpark verlassen möchte, Quintessa, die mehr über ihre Vergangenheit erfahren will und wie Herzkönigin, die alles daransetzt, sich an mir zu rächen", zählte Dorothea auf. „Passt alles zusammen." „Nicht nur das", fügte Quintessa hinzu. „Der blaue Schimmer. Ich bin auf dem Weg in eure Welt durch den Korridor gegangen, der blau schimmerte. Die Blumen schimmern auch blau, wenn sie vom Papier auf den Schreibtisch gelangen."

„Wenn ich in meine Traumwelt gegangen bin, hat auch alles blau geschimmert", sagte Dorothea nachdenklich. „Der Ball hat sich auch in blaue Schimmer aufgelöst", ergänzte Benno. Die Jugendlichen und die Drachen wechselten einige Blicke. „Könnte das vielleicht der Schlüssel zu all unseren Problemen sein?", hoffte Dorothea. „Wie meinst du das?", fragte Xenia. „Ich wollte doch wirklich nur ein bisschen malen, mehr nicht!" „Du brauchst dir überhaupt keine Vorwürfe zu machen", entgegnete Avli. „Dank dir sind wir ja erst diesen entscheidenden Schritt weitergekommen."

Das Drachenmädchen errötete leicht. „Ich denke, was Dorothea uns sagen will, ist, dass wir somit auch Geschichten beeinflussen können", überlegte Lasse. Dorothea nickte vielsagend. Quintessa holte Luft. „Das wäre doch die Möglichkeit, endlich etwas Klarheit in die Sache zu bringen", meinte sie. „Ich bin ja, im groben Sinne, auch nur so eine unklare Sache." „Bist du nicht", widersprach Benno. „Ohne dich würden wir jetzt nicht wissen, dass es eine Zwischenwelt gibt und dass die Buchfiguren aus eigenen Stücken in unsere Welt kommen." „Wir könnten damit aber wirklich in die Geschichten eingreifen", überlegte Dorothea. „Der Graf konnte es. Xenia kann es jetzt auch. Es scheint also an diesem Raum zu liegen." „An der bläulich anheimelnden Aura dieser Ideenfabrik", philosophierte Avli. „Nur, wie wollen wir denn beweisen, dass wir die Geschichten wirklich beeinflussen können?", fragte Lasse. „Ist das nicht so, als würden wir Gott spielen? Wir entscheiden Dinge für andere Personen, die darauf keinen Einfluss nehmen können." I

m Raum trat Schweigen ein. Lasse hatte recht. „Das ist eine richtig große Macht", sagte Avli schließlich. „Stellt euch mal vor, was wir alles damit machen könnten." „Wir werden dir kein Erdnussparadies bauen und auch keine Gummibärchenwelt", entgegnete Benno sofort. „Das will ich doch auch gar nicht", erwiderte der Drachen sofort. Ihm war jedoch anzusehen, dass er Bennos Idee nicht abgeneigt war. „Was ich damit sagen will, dass wir die Geschichten so weiterschreiben, dass die Figuren schließlich in ihre eigene Welt zurückkehren können", erklärte er schließlich. „Das ist trotzdem... irgendwie komisch", fand Benno. „Wie wollen wir das denn anstellen? Wir können nicht überprüfen, ob es wirklich funktioniert. Vor allem die Geschichte der Herzkönigin und ihren Racheplänen." „Zu irgendwas muss das doch gut sein", meinte Dorothea. „Wenn es mit Blumen und Blumenvasen klappt, dann muss es doch auch mit Worten funktionieren. Beim Grafen war es doch auch so. Dass es einen anderen Grund gibt, dass Buchfiguren auf einmal real werden können, scheint mir unwahrscheinlich." „Ich mache es", meinte Quintessa schließlich.

„Du machst was?", fragte Lasse verwundert. „Ihr braucht doch eine Buchfigur, an der ihr die Kraft ausprobieren könnt", erklärte Quintessa. „An mir könnt ihr ausprobieren, ob die Worte auf dem Papier wirklich auf mich übergehen. Ich bin hier, ich stehe vor euch, ihr könnt mich sehen und hören, mit mir reden. Perfekte Voraussetzungen, oder?" „Eigentlich schon", stimmte Benno nachdenklich zu.

Thunderstorm - Das Vermächtnis (Buch II)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt