Valentinstag

12 2 0
                                    


Mein Wecker klingelt.
Die einstudierte Bewegung meines rechten Arms erfolgt wie immer reibungslos:
Wecker nehmen, kurz einen halbherzigen Blick auf die Uhrzeit riskieren und dann das Teufelsding mit voller Wucht auf den Boden pfeffern.
Vorgang erfolgreich abgeschlossen. Ich seufze genervt und gehe mit meiner Bettdecke erneut auf Kuschelkurs.
Kuschelkurs? Verwirrt reiße ich die Augen auf und bemerke plötzlich, dass ich kerzengerade schockgefroren in meinem Bett sitze: Wörter formieren sich plötzlich wie Schemen vor meinem inneren Auge. Sonntag. Schule. Ausschlafen. Bevor mir auffallen kann, dass mich meine Gabe der logischen Verknüpfung erneut im Stich gelassen hat, explodieren 12 feuerrote Buchstaben mit solcher Heftigkeit in meinem Kopf, dass ich zurück in mein Bett kriechen und mich am besten mit demselben fusionieren möchte:
Valentinstag.

Mein Wecker klingelt. Nach dem ich mein morgendliches Ritual diesbezüglich beendet habe, finde ich mich schon am Küchentisch wieder. Meine Oma sitzt vor mir und liest Zeitung, während ich hektisch mein Frühstück hinunter schaufle. "Welches Datum haben wir?" Frage ich vorsichtig, man weiß ja nie, was einen erwartet. Weihnachten kam auch so plötzlich. „14. Wieso fragst du?" „Hach, Omi, nur so." Erleichtert stehe ich auf und trete mit einer Jacke, Handschuhen, Pfefferspray und meiner Schultasche bewaffnet nach draußen ins Freie: Es gibt nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste.
Mit der Eleganz eines Elefantenbabys entere ich den Bus. Ein seltsames Gefühl beschleicht mich: Irgendwas stimmt doch heute nicht. Während ich mich auf meinen angestammten Platz am Fenster schleiche, analysiere ich die Situation. Die Anzahl der Pärchen im Bus muss sich ungefähr verzehnfacht haben und beschlossen haben, genau heute in jeglicher Weise mein Blickfeld zu fotobomben. Irgendwie grinsen heute alle so, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, Geschenke und Blumen mit sich herumzuschleppen. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt, junge Dame." Mir wird abwechselnd heiß und kalt, ich starre auf die hintere Scheibe des Buses und versuche das Geschehene zu verarbeiten: Der Busfahrer ist gut gelaunt. Schon bevor ich diese Liste an seltsamen Dingen erstellt hatte, war mir klar, auf was für ein gefährliches Datum ich mich eingelassen habe. Nun ist es zu spät, um sich krank zu melden.

Als der Bus vor der Schule hält, versuche ich dem typischen Valentinstags-Gewusel auszuweichen – Vergeblich. Alle paar Schritte muss ich aufpassen, dass ich nicht in ein frisch verliebtes Paar reinrenne, und ich muss mich wirklich beherrschen. Endlich sehe ich meinen Kursraum und tackle mich durch die letzten Menschenmassen. Meine beste Freundin passt mich ab, als ich durch die Tür gehen will. Ein Blick auf sie genügt und ich kann die Konversation der nächsten Minuten vorhersagen: „Guck mal, was Dennis mir geschenkt hat!" Ich gucke. Anna kramt einen Zettel aus ihrer Tasche hervor. Bevor ich meine Glückwünsche zu diesem Stück Papier ausdrücken kann, drückt sie mir das besagte Schriftstück in die Hand: „Hier, lies mal!" Das vermeintliche ein Stück Papier entpuppt sich als ein 4-seitiges Liebesplädoyer. Doppelseitig beschrieben. Ich lächle so breit wie ich kann und verschwinde endgültig in meinem Kursraum, wie immer zu früh, um dem vorunterrichtlichen Gemurmel zu entkommen. Valentinstagsgetuschel erfüllt den Raum. Kurz überlege ich, ob ich genug Kopfschmerzen habe, um mich doch krankschreiben zu können.

Zu meinem Leidwesen klingelt es zur Pause und ich schiebe mich neben den anderen zur Tür hinaus auf den Flur. Plötzlich erstarre ich und blinzle ungläubig: Vor mir steht plötzlich SIE und lächelt mich mit einer Mischung aus Neugier und Höflichkeit an. „Ist irgendwas?" fragt sie irritiert. Mein „Hi, wie geht' s dir, du siehst so wunderschön, willst du mich vielleicht heiraten?" bleibt mir aufs Neue im Halse stecken. „Äh. Nee." Meine Zunge liegt offensichtlich im Streit mit meinem Gehirn. Mal wieder. Ich lache, weil mir nichts Besseres einfällt. Sie strubbelt mir kurz durch die Haare und verlässt dann zusammen mit ihrer besten Freundin den Flur. Nachdem ich aufgehört habe zu lachen, möchte ich am liebsten weinen.
Die nächsten Stunden verharre ich so still und leise wie möglich an der Seite meiner Freundinnen, damit ich nicht auffallend allein dastehe. Wie mir zu spät bewusst wird, ein großer Fehler, denn alle meine Freundinnen sind längst nicht mehr single und so platze ich direkt in die von Liebe erfüllten Gespräche.
„Na, hast du's gelesen?" fragt mich Anna und ihre Augen glitzern. Kurz frage ich mich, ob sie mich quälen will oder ob ich mir den sadistischen Unterton in ihrer Stimme einbilde. Ich habe den Brief gelesen. Nebenbei hatte ich Matheaufgaben gerechnet, um die geballte Ladung Liebe in diesem Brief mit irgendeiner Form von Hass kompensieren zu können. Ich sage Anna, dass der Brief von Liebe erfüllt war. Das reichte ihr wohl als Kompliment, denn sie widmet sich nun weiter ihrem Freund, der – immer öfter – ebenfalls ein Teil unseres gemeinsamen Raums wurde.
Es klingelt erneut. Mein stilles Gebet gen Himmel ist erhört worden. Die letzten beiden Stunden fallen heute aus und so quetsche ich mich in den völlig überfüllten Bus nach Hause, während mir Anna und Dennis mit einem Honigkuchenpferdlächeln hinterher winken. Im Bus setze ich meine Kopfhörer auf, höre „Männer und Frauen" von den Ärzten auf der höchsten Lautstärkestufe und trage so meinen Teil zu diesem Datum der Liebe bei. Plötzlich ertönt ein Piepen in meinem Kopf, immer lauter werdend verhakt es sich in meinen Gedanken. Genervt stelle ich die Musik leiser, doch es wird immer lauter und durchdringender, bis die Welt vor mir zu verschwimmen scheint....

Mein Wecker klingelt.
Verschlafen schleudere ich ihn beiseite und raffe mich auf, um meinen Bus zu erwischen. Ich muss schlecht geträumt haben, denn eine seltsame Vorahnung beschleicht mich, als mein Bus an der Haltestelle hält und ich mich unter die Masse von Schülern mische. Im Bus angekommen bemerke ich plötzlich, dass irgendetwas nicht stimmt und als ich zwischen „Your pain, my thrill" und „Dead inside" kurz die Gespräche um mich herum wahrnehme, wird mir bewusst, was für ein schrecklicher Tag mir bevorsteht.


Ein kleiner Imbiss für ZwischendurchWhere stories live. Discover now