Unschuld

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Kalter Schnee fiel auf ihre Buchstaben. Buchstaben, in verschnörkelt geschriebene Form gepresst und in glatte Oberfläche geritzt, gebannt in Marmorstein für die Ewigkeit. Ewig.
Ein flüchtiger Blick entlang der einzelnen Worte genügte, um das Maß an Mühe, die der Grabsteinschleifer sich gemacht haben musste, erahnen zu können. Auf dem Stein verliefen unsaubere Linien, nicht gänzlich entfernte Rückstände des Steins, die die durch die Gravur entstanden waren. Er glaubte sogar, einen falschen Buchstaben in ihrem Vornamen entdecken zu können. Ein H hatte sich hinter die anderen Bestandteile dieser lieblichen Lautfolge gequetscht, eine Dreistigkeit des Klerus. Sarah. Wie dieses H es wahrscheinlich tat, fühlte auch er sich am falschen Ort und ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht, belebte es für einen Moment, bis es einen Wimpernschlag später wieder einfror. Sarah. Falsch wie das H, das sich in ihr Leben geschlichen hatte.
Ein Windstoß zerrte an seinem Mantel und riss ihn zurück in den Scherbenhaufen seiner Wirklichkeit. Nichts an dem, was Sara an dem Winter so geliebt hatte, konnte er nun lieben. Ein sie dem Winter fehlte? Ein Feuer wäre gut. Einen Funken auf der Haut spüren, einatmen und die Hitze einer Flamme im Herzen tragen. Er zuckte zusammen, als der Gedanke an das Feuer drohte, seine Gedanken zu übernehmen. Flammen. Er erinnerte sich. Saras Schreie. Er ließ den Gedanken an Wärme fallen. Flammen sind schrecklich. Sie nahmen Leben. Unschuldige. Einfach so.
„Idiot."
Ein Wort löste sich gemeinsam mit seinem Besitzer aus dem Schatten. Er hatte die beiden zunächst nicht bemerkt, drehte sich aber einige Augenblicke später um. Ein großer, brünetter Mann lehnte lässig an einem Baum. Sein Gesicht war zur Hälfte von seinem Mantelkragen verdeckt, was seine Stimme dumpf klingen ließ, doch sein Wort brauchte keine Deutlichkeit, um zu wirken. Es brauchte nur eine Existenz, wie das bei den meisten Waffen der Fall war.
„Sie war eine Hexe."
Sicherlich. Vermutlich wäre er darauf längst gekommen, wenn er der Kirche Glauben geschenkt hätte. Nun schüttelte er starr mit dem Kopf und wandte den Blick ab. Er wusste, was er getan hatte. Und er wusste, was sie getan hatte. Er erinnerte sich gut daran. Sie, ein kleines Mädchen im Alter von vierzehn Jahren, also vor einer Ewigkeit. Sie hatte diese Blumen mit nach Hause gebracht hatte, um ihre kranke Mutter zu kurieren. Es stand so schlecht um sie, dass sie nicht einmal mehr trank, aus Angst, durch das Wasser in ihrem Baum mehr erbrechen zu müssen. Alle Ärzte hatten sie bereits aufgegeben, bis Sara zur Tür eintrat, die Pflanzenstängel fest umklammert in der kleinen Hand. Niemand wusste damals, woher sie diese wundersamen Gewächse bekommen hatte, doch diese Frage hatte sich auch nicht gestellt. Das war vor langer Zeit. Vor einer Ewigkeit.
„Du weißt das."
Wer dieser Mann war, wusste er. Ein reicher Adeliger, der ihn und seine Familie seit Generationen als Leibeigene behielt. Möglicherweise würde er in den nächsten Monaten sein Gut verdoppeln und eine reiche Edeldame heiraten. Doch er war jung und vergesslich dazu. Und das Schlimmste: Er war anwesend.

„Ja, Herr."

Natürlich hatte er Recht. Sie war eine Hexe. Ein Teufelsweib. Eine Reinkarnation Satans. Warum?
Sie war verflucht und verbrannt. Warum?
Eine bösartige Pest. Eine Ausgestoßene. Warum?
Sie hatte ihre Mutter vor dem Tod bewahrt. Eine alte, ausgelaugte Frau mit einem weichen Herzen. Eine liebenswerte Lady. Ein Wesen des Lebens.

Der Mann ging mit seinem Wort vor und ließ eine weiße Rose auf ihr Grab sinken, eine Geste, die ihm die Luft abschnürte.
„Möge sie nun mit meiner und Gottes Gnade in der Hölle Buße tun."

Dann ging er. Es dauerte nur weniger Sekunden, bis sich das Geräusch seines zwischen dem Heulen des Windes und dem Geräusch fahrender Wagen verlor. Es war Winter geworden in Paris.
Ein Feuer war gezündet worden, ein großes, langanhaltendes Meer aus Funken. Das Leiden einer Hexe eben.

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Ein kleiner Imbiss für ZwischendurchWhere stories live. Discover now