Die Mathematik und Ich

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Hallo allerseits.
Ja, das ist die wahrscheinlich langweiligste Anrede, die jemand in meinem Alter von sich geben kann. Ist nicht wirklich in, hip oder cool. Wenn man diese Worte in einem Duden nachschlagen würde, vorausgesetzt man fände sie darin, würde man dort auf alles stoßen, aber nichts finden, was auf mich zuträfe. Das ist allerdings eine tolle Überleitung zu dem, was ich eigentlich bin: Ein Haufen Seltsamkeit mit einer schönen, schleimigen Übertreibungs-Glasur, verziert mit Sarkasmusraspeln. Ich vegetiere in einem Sud aus Selbstzerstörung, schlechten Kritiken und kochender Wut vor mich hin. Und davon abgesehen scheint sich der Fuß dieses stinkenden, monströsen Selbst seit einigen Monaten aufzulösen. Vielleicht hast Du schon erraten, was ich bin: Eine Oberstufenschülerin. 17. Und eine gescheiterte Schriftstellerin am Tiefpunkt ihrer Existenz. Tolle Voraussetzungen, um einen neuen Roman zu schreiben.
Und da bin ich auch schon, inmitten des Alltags, den ich genau als dieses versunkene Titanic-Wrack bezeichne: Mein Leben.

„Jesselyn Fords, können Sie die unterschiedlichen Abzählverfahren nennen, die zur Berechnung von reellen Zahlen mit und ohne Beachtung der Reihenfolge eingesetzt werden?"
Bevor ich nachdenken kann, erhebe ich mich und befinde mich plötzlich eine halbe Mannslänge über meinen Mitschülern, wie ein einziger Wolkenkratzer inmitten eines Dorfes. Genauso komme ich mir auch vor: Vollkommen fehl am Platz. Aber so gar nicht der Sonne nahe. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich die Frage richtig verstanden habe. Oder darüber, ob ich tatsächlich in dem richtigen Fach sitze, um mit meiner für solche Fälle auswendig gelernten Erklärung über Origami-Faltkunst punkten zu können. Reflexartig schüttele ich den Kopf und fixiere starr die Raufasertapete an der mir gegenüberliegenden Wand. Genau genommen liegt die Wand ja gar nicht, sie steht, so wie alle anderen Wände auch, denn Wände liegen nicht, sie stehen und sind oft bemalt mit Farbe oder beklebt mit Kleister und mehreren Schichten Tapete, die oft in verschiedenen Rot- und Blautönen... Ich stoppte den Gedankengang, als mich jemand von links in die Seite knufft. Als ich aus meinem Tagtraum erwache, blicke ich in Amys verwirrtes Gesicht, die mich mit einer Mischung aus Mitleid und Bitte-nicht-schon-wieder ansieht. Schockiert wird mir klar, dass ich irgendwo inmitten des Satzes begonnen hatte, ihn laut auszusprechen. Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt, richte nervös meinen langen, braunen Rock und setze mich etwas unbeholfen hin. Irgendwo hinter mir lachen ein paar Schüler und flüstern einander Sätze zu, die ich nicht verstehe, und auch nicht verstehen will. Ganz ehrlich, was ist so schlimm daran, dass ich kein Mathe kann? Das ist doch absolut normal. „Jesselyn, wir haben das Thema nun seit über zwei Monaten. Dass Sie noch immer solche Schwierigkeiten bei der Beantwortung so einfacher Fragen haben, ist eindeutig nicht normal." Dankeschön. Mein Lehrer sollte unbedingt Motivationstrainer werden. Ich verdrehe genervt die Augen. Was kann ich denn dafür, dass Mathematik die verklemmte und engstirnige Mittvierzigerin unter den Hauptfächern ist? Ich meine, es gibt nur einen einzigen Lösungsweg und wenn man den nicht kennt, ist gleich die gesamte Aufgabe unlösbar? In welchem verdrehten Universum gibt es für ein Problem nur einen einzigen Lösungsweg? Wenn man genug Willen zeigt, findet man immer eine andere Möglichkeit, egal wie unlösbar der Fall auch scheinen mag. Ich gehe mit dieser simplen Strategie zum Beispiel ziemlich gut durchs Leben. Frustriert schreibe ich die Aufgaben in mein Heft, um zumindest den Anschein einer kompetenten Schülerin erwecken zu können. Diese vermeintlichen „Probleme", die nun nach und nach ihren Weg auf meinen karierten Block finden, hätte ich ehrlich gesagt auch gern. Jedes Mal, wenn ich mir eine mathematische Problemstellung durchlese, springt mich das schwarz-weiße Bild eines suizidgefährdeten Nerds mit einer viel zu großen Brille auf der Nase und zerschlissenen Hipster-Jeans geradezu an, wie er weinend auf seinem Bett kauert und sich mit tränenerstickter Stimme fragt, wie er das Gewicht eines mutierten Chamäleons berechnen kann, wenn die Regenwahrscheinlichkeit mittwochs bei 72% liegt. Und dann ist jede Gegenrede zwecklos; schlimmer noch, Worte an sich sind zwecklos. Denn es gibt ja nur einen Lösungsweg und als Nicht-Mathematiker, der in normalen Umlaufbahnen denkt, ist man in diesem elitären Kreis von vornherein ausgeschlossen. Ich seufze theatralisch, als mir bewusst wird, dass dieser Umstand der eigentliche Grund ist, wieso die Mathematik und ich uns gegenseitig abstoßen: Ich denke weitaus umfangreicher, als sie es tut.

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⏰ Last updated: Dec 30, 2016 ⏰

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