Leider verwechselt 

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Mein Handy schrie mich an und ich fühlte mich, als hätten sich alle möglichen übernatürlichen Erscheinungen gegen mich verschworen. Verschlafen blinzelte ich und suchte vergebens nach meinem Handy: Ach richtig, ich hatte es am Vorabend im Flur unter dem Berg von Handschuhen und Mützen vergraben und auf maximale Lautstärke gestellt, damit ich gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, einfach weiterzuschlafen.
Als ich am Küchentisch saß und das Höllengerät fluchend in meine Schultasche verbannt hatte, klingelte es einige Male an der Haustür. Da ich allein zuhause war, spielten sich vor meinem inneren Auge die seltsamsten Szenarien ab: Wer klingelte morgens um halb 9 in der langweiligsten Kleinstadt des Universums ausgerechnet bei mir? Bevor ich mich zwischen einem Einbrecher, einem Telekom-Typen und einem zu groß geratenen Kaktus entschieden hatte, stand ich bereits an der Tür und prüfte durch die verschwommenen Scheiben die Umrisse der einzelnen Gestalt. Ich entschied, dass der Kaktus von der Liste gestrichen wurde, und öffnete vorsichtig die Tür. Das schmächtige, kleine Mädchen, das mir mit großen Augen entgegenblickte, lies mein Herz unweigerlich höherschlagen. Sofort warf ich einen Blick auf den Kalender, den ich stets in meinen Gedanken mit mir trug, um nicht völlig planlos durch die Weltgeschichte zu stolpern.
Kein besonderes Datum. Ich stammelte ein Hallo und trat zur Seite. Sie ging an mir vorbei und lächelte kurz, aber so breit, wie ich es von ihr gewöhnt war. Ihr langes, blondes Haar war wie immer glatt und glitzerte golden, als sich das Licht von draußen in ihnen reflektierte. Sie trug dieselben Klamotten wie sonst auch: Eine Jeans, einen dunkelblauen Pullover und kleine, blaue Ohrringe, die die gleiche Farbe hatten, wie ihre Augen. Lapislazuli-Blau, hätte ich früher wohl gesagt, doch mit der Zeit hatte ich gelernt, dass sie mehr dem kalten Eis glichen. Heute war sie allerdings überhaupt nicht kühl zu mir, ganz im Gegenteil schien sie sich sehr darüber zu freuen, mich zu sehen. Als wir hoch gingen, erzählte sie mir von ihrer Busfahrt und beschwerte sich ausführlich darüber, wie der Busfahrer einem der Mädchen die ganze Zeit auf den Ausschnitt geguckt habe. Dass sie mir auch von der Konstitutionellen Monarchie der französischen Revolution hätte erzählen können, fiel ihr dabei anscheinend nicht auf. Selbst wenn sie mir den biologischen Aufbau eines Reiskorns erklären hätte, hätte ich wie gebannt an ihren Lippen gehangen. Sie setzte sich auf das Sofa in meinem Wohnzimmer und blickte mich ernst an. Ich spürte, wie sich etwas veränderte. Die letzten paar Sekunden kamen mir unwillkürlich weit weg vor, als sie so da saß und mich einfach nur ansah. Es war oft so, wenn wir redeten. Manchmal war sie einfach so ruhig und ernst, dass sie eine neue Atmosphäre schuf, die man mit einem Messer schneiden konnte. An manchen Tagen redeten wir überhaupt nicht, sondern saßen uns nur schweigend gegenüber. Gerade an solchen Tagen fühlte ich mich ihr noch mehr verbunden, denn die Stille einte uns und mich entspannte es, einmal nicht den Clown in der Schule spielen zu müssen. Man verstehe nicht falsch: Würde sie es verlangen, würde ich für immer lachen können. Es war nur ein einziger Befehl, ein Wort oder eine Bitte, die mich beflügelte und mich motivierte, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Nichts war vergleichbar mit ihr. Ich brauchte keine Abenteuer, keine anderen Wesen, keine Menschen, keine Gespräche, solange ich ihr gegenüber sitzen und mit ihr zusammen die Welt totschweigen konnte. Ich seufzte leise und zog die Augenbraue hoch, das tat ich immer, wenn wir eine Weile lang nichts sagten. Es war eine Frage: Sie antwortete mir nicht sofort, sondern wandte sich lediglich von mir ab. „Len, ich bin in einer Beziehung." Ich grinste breit, als sich Verzweiflung in mir aufbaute und mich packte, wie ein wildes Tier. Nicht so ein niedliches Reh, das durch den Wald irrte, mehr ein Bär, der verärgert war, als er erkannte, dass seine erlegte Beute schon von einem anderen Tier gefressen worden war. „Ehrlich?" Ich wollte nicht so fordernd klingen, doch der Unterton mischte sich einfach in meine Stimme. Als dein Blick erhärtete, wusste ich, dass ich einmal wieder die falsche Frage gestellt hatte. „Ja, ehrlich." Sie stand auf und fixierte mich einige Sekunden mit zusammen gekniffenen Augen. Sie prüfte mich, wollte wissen, wie ich reagierte. Ich nahm ihr diesen Spaß, indem ich sie einfach offen anlächelte. Das war es, was ich meinte. Wenn sie es wünschte, würde ich die Welt umarmen und alles um mich herum Willkommen heißen. Wenn es ihr Wunsch war, würde ich akzeptieren, dass sie nun auf eine gewisse Weise von mir getrennt war. Wenn es ihr Wunsch war, sollte sie ihn aussprechen. Oh Gott, ich wünschte mir nichts mehr als einen solchen Befehl! Natürlich schwieg sie und da ich nichts mehr zu erwidern wusste, hielt ich ebenfalls meine Klappe. Nach ungefähr einer halben Stunde klingelte ihr Telefon und riss mich recht unsanft aus meinen Tagträumen. „Ich muss los.", säuselte sie leise, ging an mir vorbei und öffnete die Tür zum Hausflur. Einige Augenblicke später hörte ich, wie sie die Tür laut zuschlug.
Mich überkam ein Frösteln, das meinen ganzen Körper mit sich zog, ein Prickeln und sofort danach saß ich still da, als wären die letzten Minuten niemals geschehen. Endophine. Ich musste heftig lachen, um mich von einem ausgedehnten Heulkrampf abhalten zu können. Ich wünschte, sie würde einfach einsehen, dass sie zu mir gehörte.
Als ich mein Handy aus meiner Tasche kramte und gelangweilt meine Facebook-Startseite durchscrollte, blieb mein Blick an einem Bild von uns beiden hängen. Wir lächelten fröhlich in die Kamera, ich erinnerte mich genau an diesen Tag, es war September gewesen, der 19., um genau zu sein. Als ich die Überschrift des Fotos las, rief ich sie an und begann, mich unter Tränen zu entschuldigen.

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Ein kleiner Imbiss für ZwischendurchWhere stories live. Discover now