Ethan

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Als ich Betty kennenlernte, ging es ihr das erste Mal nach zwei Jahren wieder ein kleines bisschen besser. Das wusste ich damals nicht. Ich wollte sie einfach kennenlernen, als ich sie im Supermarkt gesehen habe. Sie sah aus, als hätte sie ein ganzes Leben in ihrer Brust verschlossen, von dem sie niemandem etwas erzählen wollte. Sie sah aus, als würde sie allgemein wenig erzählen. Erst, als ihre kleine Tochter um die Ecke gerannt kam und laut „Buuuh!" schrie, schien sich etwas in ihr für einen Moment zu öffnen. Ihr Lachen war Gold wert. Mir war klar, dass sie nicht oft lacht und ich weiß bis heute nicht, woran ich das erkannt habe. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Da war nur dieser eine Augenblick, in dem sie ihre Tochter sah, die mit weit von sich gestreckten Armen und einem riesigen Strahlen im Gesicht vor ihr stand.

Ich muss damals wie ein Stalker gewirkt haben. An der Kasse, nachdem sie gezahlt hatte und begann ihre Einkäufe einzupacken, habe ich sie nach ihrer Nummer gefragt.

Sie hat mir einen Korb gegeben.

Und das war das Beste, was sie tun konnte, denn ich habe es deswegen immer wieder versucht. War sie anfangs noch genervt von mir und hielt mich für einen Kriminellen, von dem ich nicht unbedingt abstreiten konnte, dass ich keiner war, so schien es sie irgendwann zum lächeln zu bringen, wenn sie mich sah – wie immer, jeden Dienstagnachmittag an der Kasse des Supermarktes, der heute in dem Viertel liegt, in dem wir unser Haus gebaut haben.

Ich will nicht behaupten, dass sie ihre Meinung irgendwann änderte, denn das tat sie nicht. Sie sagt noch heute, dass sie nie eingewilligt hatte, sich mit mir zu treffen.

Es war Evelyn.

Ich erinnere mich noch genau, wie das kleine Mädchen an diesem besonderen Dienstag am Ärmel ihrer Mutter zog und „Mommy, da ist der Mann, von dem du immer Grandma am Telefon erzählst" sagte.

Ich musste lächeln, Betty errötete ein wenig, was sie noch süßer machte und dann ging sie. „Er weiß ja, wann wir immer einkaufen" sagte sie noch laut zu Evelyn, bevor die automatische Tür sich hinter ihr verschloss.

Mir war klar, dass es einen Grund für ihre ablehnende Haltung geben musste. Zunächst dachte ich, dass sie verheiratet oder zumindest liiert sein musste. Immerhin gab es ja einen Vater von Evelyn. Das dachte ich zunächst. Doch als das kleine Mädchen diesen einen Satz zu ihrer Mutter sagte, wusste ich irgendwie, dass es diesen Vater doch nicht gab. Dass es ihn nicht mehr gab. Natürlich hätte es noch tausend andere Möglichkeiten geben können – vielleicht waren die beiden getrennt oder vielleicht war Evelyn auch durch eine künstliche Befruchtung entstanden.

Dagegen sprachen genau zwei Sachen.

Erstens – Betty war jung. Sehr, sehr jung. Ich schätzte sie damals auf höchstens zwanzig. Welche Zwanzigjährige ließ sich künstlich befruchten.

Zweitens – Der Schmerz, den ich in ihren Augen sah, sprachen dafür, dass sie den Menschen, den sie geliebt hatte, verloren hatte. Es war kein Trennungsschmerz. Es war ein sehnsüchtiger Schmerz.

Ich will nicht behaupten, dass ich diesen Schmerz je lindern konnte. Dass ich sie Miles vergessen ließ, denn das war nicht möglich. Dafür vereinnahmte er einen viel zu großen Teil ihres Lebens. Doch, wenn ich ihre Vergangenheit nicht verändern konnte, wollte ich wenigstens, dass ihre Zukunft etwas schöner wurde.

Es war ein Dienstag im Mai, als ich sie ohne Widerworte zu dulden zum Essen einlud. Wir fuhren mit dem Auto zu meinem Lieblingsrestaurant und ich kann, im Nachhinein betrachtet, sagen, dass das wohl das schlimmste Date aller Zeiten war.

Betty hatte so was noch nie erlebt und ich wusste nichts über sie. Meine schlechten Witze waren wirklich sehr schlecht und am Ende brachte ich sie nach einer schweigsamen Autofahrt zum Supermarkt, wo ihr Wagen noch stand. Das letzte, was sie sagte, bevor sie ausstieg, war, dass das Eis im Kofferraum ihres Pick-Ups sicherlich geschmolzen sei.

Ich rechnete fest damit, dass Betty mich jetzt nie wieder sehen wollte. Es war nicht so, dass die Chemie zwischen uns nicht stimmte, das glaubte ich nicht – Betty war einfach nicht bereit für etwas Neues.

Es dauerte ein Jahr. Ein ganzes Jahre. Ich datete inzwischen andere Frauen, wobei es immer bei ein, zwei Verabredungen blieb, weil ich dieses junge Mädchen mit der unglaublichen Mähne einfach nicht ganz vergessen konnte. Als ich es gerade fast geschafft hatte, stand sie plötzlich vor meiner Tür.

Sie hatte sich mein Kennzeichen gemerkt und irgendwie herausgefunden, wo ich wohnte. Ein ganzes Jahr hatte sie gewusst, wo ich wohne, erzählte sie mir noch an diesem Abend. Sie hatte es sofort nach unserem ersten Date recherchiert.

Heute weiß ich, warum sie Zeit brauchte.

Miles, der Vater ihrer Tochter, hatte sich tief in ihr Herz gefressen und sie hatte nie darüber nachgedacht, ihn von dort zu verbannen. Wahrscheinlich hat sie das bis heute nicht. Aber das ist okay. Denn ich weiß, dass ich einen größeren, einen vordergründigen Platz einnehme, ohne mich jemals mit Miles gemessen zu haben.

Die Zeit hat Betty beigebracht, dass sie sich wieder verlieben kann. Sie hat mir nie genau erzählt, wer Miles war und was mit ihm geschehen ist. Ich weiß nur, dass er tot ist und dass Betty deswegen auch vor dem Abgrund stand.

Anfangs versuchte sie, ihn auszulöschen aus ihren Gedanken. Sie versuchte, ihn sich schlecht zu reden. Als Mann schmeichelte es mir natürlich, wenn sie mir sagte, was ich besser konnte als er, aber mir wurde schnell klar, dass es so nicht funktionierte.

Sie konnte jemanden, den sie so sehr geliebt hatte, nicht einfach versuchen zu hassen, um mich lieben zu können.

Liebe kann nie aus Hass wachsen. Sie musste lernen, ihre Liebe zu ihm zu akzeptieren, um Gefühle für mich entstehen zu lassen.

Dafür brauchte es siebenundvierzig Verabredungen, von denen wir manchmal Rücken an Rücken mit einer verschlossenen Tür zwischen uns da saßen, dreiunddreißig Telefonate und unzählige SMS.

Betty war definitiv der schwierigste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Nicht, weil sie sich mir nicht öffnen konnte anfangs, sondern, weil sich sich selbst nicht öffnen konnte.

Sie hatte ein seltsames Verhältnis zu ihrer Mutter und allgemein hatte ich das Gefühl, dass sie nur ihr Kind und ihren Bruder lieben konnte.

Und trotzdem war es mir einfach nicht möglich, sie aufzugeben. Ich konnte sie einfach nicht gehen lassen.

Heute sind vier fünf Jahre verheiratet. Unser Sohn Aaron wird diesen Winter zwei und unsere Tochter, die immer Miles und meine Tochter war, wird Tag für Tag schöner.

Auch, wenn sie mir nie die ganze Geschichte erzählen konnte und es vielleicht auch nie können wird, weder von Miles, noch von ihrer verstorbenen besten Freundin, weiß ich, dass sie mich jeden Tag ein Stück mehr lieben wird.

Es ist für mich nicht wichtig, was geschehen ist und wer Miles oder Evelyn sind – für mich ist nur wichtig, dass Betty die Steine, die sie in ihrem Herzen hinterlassen haben, langsam in Luftballons verwandeln kann. Sie soll nie vergessen, was war. Ich wünsche mir einfach, dass ihre Liebe zu uns stärker sein wird. Und das wird sie.

Weil sie ein Wrack war und schon jetzt heller strahlt, als ich es je für möglich gehalten habe.

Betty wird vielleicht niemals aufhören, Miles zu lieben, aber das muss sie auch gar nicht.

Narben hindern einen nicht zwangsläufig daran, gesund zu werden, wenn man lernt, sie zu akzeptieren.

Sie muss nicht aufhören, ihn in sich zu tragen, um glücklich zu sein.

Die Definition von LiebeOnde histórias criam vida. Descubra agora