N E U N

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,,Du weißt nicht,
wo du langgehen musst, stimmt's?"

Er hatte ihr zugesehen,
wie sie aus der Höhle gekrochen war
und sich suchend umgesehen hatte.
Sie wirbelte herum
und blickte ihn finster an.
Doch dann seufzte sie.

,,Nee. Weiß ich nicht."

,,Soll ich dir vielleicht doch helfen?"

,,Ja."

Es klang sehr widerwillig.
Aber es war ein ja.

,,Folg mir. Es ist nicht mehr weit."

Sie marschierte dicht hinter ihm her,
sah ihn jedoch nicht an.
Nach einer halben Stunde räusperte er sich.

,,Hey, hör mal.
Es tut mir Leid wegen gestern."

,,Schon okay."

,,Nein, ehrlich! Ich war blöd.
Wenn du Shaun liebst, dann..."

,,Schon okay, Phil!"

,,Echt?"

,,Ja."

Sie schwiegen wieder,
bis sie bei der Schwelle angelangt waren.

,,Wow."

Sie hauchte es nur.
Aber es war wirklich atemberaubend.
Zwischen hohen Bergen,
in einer schmalen Lücke,
öffnete sich ein Tunnel, an dessen Ende
fern ein gleißend helles Licht leuchtete.

,,Schön, oder?"

,,Mhm. Was muss ich jetzt machen?"

,,Stell dich dicht davor.
Es kommt ganz von allein."

Sie tat, wie ihr geheißen.
Und dann wurde sie empfangen.
Von einem Nebel, in dem Bilder ihres Lebens
flackerten.

Wie sie ein Kind war.
Glückliches Kinderlachen.
Ein Haus mit vielen Kindern. Ein Kinderheim.
Aber sie war nicht unglücklich gewesen.
Wie sie volljährig wurde.
Ihre eigene Wohnung bezog.
Ihn kennenlernte.
Ihren ersten Kuss. Und mehr.
Ein Konzert. Ein Lied.
Immer wieder.

Und dann...
Sie, die nach Hause kam
und die Schlafzimmertür öffnete.
Die Geräusche. Das Bild.
Er. Und sie neben ihm.
Rote Locken. Grüne Augen.
Ein ,aufgepustetes' Gesicht.
Seine leeren Worte.
Ihre Trauer.
Wut.
Enttäuschung.
Alles auf einmal.
Der Unfall.
Und dann wusste sie es.

Als der Nebel sich lichtete, hatte sie sich entschieden.
Es war jetzt ihr Leben.
Er hatte keine Macht mehr über sie.

Nichts hielt sie mehr bei ihm.
Aber dann war da noch er.
Der, der ihr geholfen hatte.
Der sie mochte.
Der versucht hatte, sie zu küssen.

Sie ging blitzschnell auf ihn zu,
fasste seine Hände und...

...küsste ihn.
Sie lösten sich erst nach einer langen Weile.

,,Ich komme mit dir, Phil."

,,Ist das dein Ernst?"

,,Ja."

,,Und dein Shaun?"

,,Vergiss ihn. Er ist es nicht wert."

,,Dann komm."

Sie betrat den Tunnel,
er war hinter ihr.
Das Licht wurde heller,
bis sie nichts anderes mehr sah.

Sie war soweit.
Sie war jetzt hier zuhause.

Wenn wir wüssten,
dass nach dem Tod etwas Schönes auf uns wartet,
hätten wir dann noch Angst vor ihm?

Somewhere else (✔️)Where stories live. Discover now