6. Kapitel

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Genervt verdrehte Keira die Augen. Es war 21:00 Uhr am Freitagabend und somit Familienzeit, das hieß sie würde nun zusammen mit Ava und Tobias einen Film schauen müssen. Das hatten sie schon eingeführt, als der erste Freitag in diesem Haus, für sie, kam. Zur Stärkung unseres Zusammenhalts, hatten sie mit einem falschen Lächeln gemeint. Vermutlich wollten sie nicht, dass Keira sich völlig unwillkommen fühlte. Sollte dem so sein, so hatten sie es nicht erreicht.

Sie war vor zwei Stunden angekommen und glücklicherweise waren weder ihre Tante noch ihr Onkel da gewesen. Normalerweise wäre Ava um diese Uhrzeit schon dort, aber später erfuhr sie, dass Ava sich die Fingernägel hatte machen lassen und dann auf eine alte Freundin traf, mit der sie sich verquatscht hätte. Eine Stunde später war dann auch Tobias gekommen und Keira flüchtete schnell in ihr Zimmer. Doch vor dem (aus ihrer Sicht unnützen) Familienabend konnte sie sich nicht drücken.

Diesmal hatte sie jedoch noch ein einigermaßen gutes Los erwischt. An den Familienabenden machten sie immer unterschiedliche Sachen. Mal sahen sie einen Film im Fernseher (wie an diesem Tag), mal gingen sie in irgendeine langweilige Kunstausstellung, die, warum auch immer, nur am Abend auf hatte, und mal blieben sie einfach zu Hause und versuchten ein anständiges Gespräch zustande zu bringen. Letzteres endete oft im Streit. Doch am aller schlimmsten waren immer noch die Spieleabende. An denen konnte man sich schon vorsätzlich in einen Bunker einsperren. Bei Kartenspielen verlor Keira immer und sie war eine miese Verliererin. So war es schon vorgekommen, dass sie an einem ihrer Familienabende den schlimmsten Streit bisher hatten:

Ava legte die letzte Karte auf den Stapel, die sie hatte. Tobias war schon lange fertig und sah ihnen, mit einem Bier in der Hand, gelangweilten Blick zusah. Verärgert sah Keira auf die Karte, die Ava auf den Stapel gelegt hatte: Es war ein Joker. Wütend warf sie ihren Haufen an Karten auf den Tisch. Alles unvollendete Haufen, die sie nie hatte auslegen können. Sie hasste Rommé.
„Ihr habt geschummelt. Die Karten waren gar nicht richtig gemischt und ich habe gesehen, wie du-" Sie deutete anklagend auf Tobias. „-in meine Karten gesehen hast!" Das war natürlich völliger Schwachsinn. Er saß auf der anderen Seite des Tisches und Keira hatte die Karten, außer mal zum reinsehen, fest an ihre Brust gedrückt. Aber wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann war es haushoch zu verlieren. Sie kam sich dann unendlich dämlich vor, obwohl sie ja wusste, dass Kartenspiele Zufallsspiele waren. Tobias hatte nur die Augen verdreht und Ava hatte genervt geseufzt. „Wie oft sollen wir das denn noch sagen? Das nennt man Glück..." Das machte Keira, aus einem ihr unbefindlichen Grund, wütend. Früher hatte sie Kartenspiele immer gewonnen. Sie hatte immer die ganzen Joker abbekommen, egal wie sehr ihre Eltern den Haufen mischten. Meist konnte sie schon nach einer Runde drei Stapel auslegen, aber nun? Nun war sie froh, wenn sie einmal auslegen konnte. Ihr Glück war weg und die Freude am Spiel ebenfalls.
Quatsch! Das ist kein Glück. Das ist...das ist...Manipulation!", steigerte Keira sich hinein, nicht bewusst, dass sie wie ein Kindergartenkind wirken musste, dass seine Lieblingsschaufel nicht haben durfte, da jemand anderes sie hatte. Ava stand abrupt auf und lief in die Küche mit der Aussage, sie würde eine Flasche Wein und Knabberzeug holen. Komischerweise brauchte sie ziemlich lang um die Küche zu finden...
Entrüstet sah Keira ihren Onkel an. „Siehst du?! Wenn das mal kein eindeutiges Verhalten für einen Schummler ist!" Tobias seufzte entnervt und meinte: „Ich glaube es wäre besser, wenn wir jetzt ins Bett gehen. Wir sind alle müde..." Aber Keira ging nicht auf die seltene Feinfühligkeit ihres Onkels ein. Stattdessen murrte sie weiter in einer Lautstärke, als würde jemand durch ein Megaphon brüllen.
„Ich will ja nur sagen, dass es absolut nicht fair ist, zu schummeln...und außerdem-" Sie wurde von Tobias unterbrochen.
„Geh doch jetzt schlafen! Wir gehen auch gleich..."
„Ich bin nicht müde!", fauchte Keira und merkte nur nebenbei wie sie aufsprang. „Ich kann einfach nicht..."
Abermals unterbrach der Bruder ihrer Mutter sie, dessen Geduld nun offenbar am Ende war.
Keira! Es reicht!", rief er. „Geh jetzt nach oben und komm erst wieder, wenn du dich beruhigt hast!"
„Gut!", schrie sie zurück. Auf einmal merkte sie, dass es ihr gar nicht nur um das blöde Spiel gingen. „Ihr macht diesen ganzen Kram doch sowieso nur, damit ich nicht mehr an den Tod von Mum und Dad denken muss! Ich bin euch doch eigentlich egal. Am liebsten würdet ihr mich doch in ein Heim geben!"
„Jetzt lass den Schwachsinn! Du weißt genau, das stimmt nicht..." Diesmal unterbrach Keira ihn, die plötzlich die Tränen zurückhalten musste.
„Ach nein?", stieß sie hervor. „Ich habe den Brief gelesen! Ihr wolltet mich loswerden! Und ich habe nichtmal was gemacht!" Kurz wirkte ihr Onkel überrascht, bevor er mit ausdruckslosem Gesicht sagte: „Geh auf dein Zimmer." Seine Stimme war leise und ließ keinen Widerspruch dulden. Doch das interessierte Keira herzlichst wenig.
Ebenso gefährlich leise und die Tränen herunterschluckend erklärte das Mädchen: „Das wird nicht nötig sein. Morgen bin ich weg. Dann erfüllt sich euer Wunsch und ihr müsst keine Angst haben mich je wiederzusehen." Sie beugte sich vor und schaute ihm in die braunen Augen, die auch ihre Mutter gehabt hatte. Doch seine waren um einiges kälter und zeigten weder Zuneigung noch irgendein anderes Gefühl für Keira. Sie waren das komplette Gegenteil der Augen ihrer Mutter. „Ich werde abhauen." Mit diesem geflüsterten Satz wirbelte sie herum und stürzte die Treppen nach oben.

Vom Schmerz der UnverwundbarenWhere stories live. Discover now