14. Kapitel

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Nein, Keira hatte nicht vorgehabt schon wieder in die goldene Leere einzutauchen. Hatte nicht vorgehabt, dass sie dies mitten im kleinen Park tat, vor all diesen Leuten, hatte erst Recht nicht geplant, dass sie Neo dabei umriss und dann für fast vier Stunden in dem Meer aus Nichts schwamm, nur um dann im Krankenhaus aufzuwachen. Aber zurück zum Anfang:

Nachdem Neo und sie fertig damit waren aufzuräumen, schlichen sie sich möglichst unauffällig aus dem Haus, klauten sich jeder ein Brötchen vom Frühstückstisch, den Tobias vermutlich für seine Frau gedeckt hatte, und liefen flink an der Garage vorbei, in der ihr Onkel am Trabi herumwerkelte.

Glücklicherweise hörte er so laut Musik, dass er nicht einmal hörte wie Keira über einen Farbeimer stolperte und dabei die Leiter, welche an der Hauswand gelehnt hatte, umwarf. Auch hörte er nicht wie Neo einen Lachanfall aufgrund ihres leisen Schleichens bekam und fast über einen zweiten Farbeimer stolperte. Keira warf ihm einen belustigten Blick zu und schließlich stellten sie die Leiter wieder auf und liefen so schnell vom Grundstück wie möglich. Neo lachte währenddessen immer noch leise und diese Mischung aus Glucksen und einem ziemlich unmännlichen Kichern, brachte auch Keira zum Grinsen.

Gestern schien vergessen, ein neuer Tag war erwacht und er versprach gut zu werden. Die Sonne schien auf die zwei Jugendlichen herab als sie durch die Straßen liefen und der Himmel trug keine einzige Wolke, war blau und klar. Wundervolles Wetter und tolle Gesellschaft, dachte Keira und warf Neo einen flüchtigen Seitenblick zu. Sie kannte diesen Jungen nicht lang, aber sie glaubte, er kenne sie besser als alle Menschen vorher, die sie kennengelernt hatte. Abgesehen von ihren Eltern. Es kam ihr so vor, als kenne sie Neo länger als ein, zwei Tage, wohl eher einen. Obwohl sie absolut nichts verband als ihr Geheimnis, merkte sie wie sie ein seltsames Vertrauen gegenüber entwickelte. Keira kam sich naiv vor. Natürlich, Neo schien ein wunderbarer Mensch zu sein, aber oft waren die Menschen anders, als sie vorgaben zu sein, und normalerweise konnte Keira diese Menschen sofort zu einer Kategorie zuordnen: oberflächlich; hinterhältig; verbittert; glücklich; freundlich, aber unsicher; vielleicht mehrere dieser Sachen zusammen. Doch bei Neo war es anders. Sie blickte in seine Augen und konnte nichts sehen, außer diese ungewöhnliche Farbe, für die sie keine Worte finden konnte.

„Was ist?", fragte Neo plötzlich und sie zuckte zusammen.

„Was meinst du?", entgegnete sie und wandte verlegen ihren Blick von ihm ab.

„Du starrst mich an. Hab ich was im Gesicht?"

„Eine Nase", erwiederte Keira, die nichts anderes zu sagen wusste. Um ihre Unsicherheit zu überspielen biss sie von ihrem Brötchen ab. Sie kaute lange und ausführlich und dies fiel auch Neo auf.

„Ich glaube das Brötchen hat sich schon in Luft aufgelöst, Regenmädchen", meinte er belustigt.

„Regenmädchen?", fragte sie irritiert und rümpfte die Nase. „Wie kommst du denn auf den Namen?" Neo lächelte sie an, als müsse sie wissen, weshalb er sie so nannte. Aber Keira wusste bis eben noch nicht einmal, dass sie Beide jetzt offenbar so weit waren, dass sie sich jetzt Spitznamen gaben. Sie mochte Spitznamen nicht. Auch wenn sie sagen musste, dass Regenmädchen ganz okay klang...

„Naja...du hast gesagt deine Lieblingsfarbe ist das Blau des Himmels, wenn es regnet. Und außerdem erinnern mich deine Augen an Regenwolken, also: Regenmädchen", erklärte er selbstverständlich und Keira fand gleich noch mehr Gefallen an diesen Namen. Sie lächelte leicht.

„Verlang jetzt aber nicht, dass ich dir auch einen Spitznamen gebe, ich bin zu unkreativ für so etwas. Zumal Spitznamen den Namen eigentlich verkürzen sollen und Neo schon kurz genug ist." Neo verdrehte als Antwort die Augen und dann liefen sie schweigend nebeneinander her. Diesmal nicht dieses peinliche Schweigen, wie es noch am gestrigen Tag oft zwischen ihnen stand. Jeder hing seinen eigenen Gedanken hinterher, aber das war nichts schlechtes. Im Gegenteil. Oft fühlte Keira sich gezwungen in diesen Situationen etwas zu sagen, um das Eis zu brechen, doch nun genoss sie es irgendwie. Den Grund wusste sie nicht. Ist es nicht seltsam, dass du diesen Jungen erst einen Tag kennst und sich seine Anwesenheit doch irgendwie vertraut anfühlt?

Vom Schmerz der UnverwundbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt