17. Kapitel

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Am nächsten Tag schwänzte Keira die Schule. Im Notfall würde sie einfach sagen, dass es ihr noch nicht besser gegangen und sie deshalb lieber noch einen Tag Zuhause geblieben war.

Sie wollte sich mit Neo treffen, der, aus irgendeinem Grund ebenfalls nicht zur Schule musste. Keira wusste nicht einmal, ob er überhaupt zur Schule ging.

Jedenfalls kam sie auf seiner Bitte hin zum örtlichen Bahnhof und wartete beinahe eine Stunde. Genervt stand sie am Bahnsteig, den Neo ihr genannt hatte, lief unruhig hin und her und sah dabei immer wieder auf die Uhr. Wenn jemand, den sie kannte, sie jetzt sah, dann wäre klar, dass sie bloß schwänzte.

Endlich kam Neo. Er starrte auf ein kleines Etwas, dass Keira beim Näherkommen als die Postkarte erkannte.

Er rannte direkt in sie herein. Keira, die dachte, er würde vorher stehen bleiben, schwankte überrascht. Sie konnte sich gerade noch so fassen, ohne auf die Gleisen zu stürzen.

„Neo! Pass auf, wo du hinläufst!", fauchte sie ihn an, imaginären Schmutz von der Hose klopfend.

„Tut mir leid, war in Gedanken", erklärte Neo und ließ schnell die Postkarte in seine Tasche verschwinden.

„Sag mal, wo warst du? Warum kommen alle Kerle, die wollen, dass ich zu ihnen komme, zu spät? Ich warte hier schon seit einer geschlagenen Stunde!"

„Tut mir leid, es ging nicht eher. Und was meinst du mit »alle Kerle«?" Neo wirkte sehr müde, aber das war Keira auch. Und schlechte Laune hatte sie ebenfalls.

„Ist egal", wimmelte sie ihn harsch ab. „Was ist jetzt mit der Bahn? Wenn wir jetzt noch eine Stunde warten, hau ich ab und gehe lieber zur Schule!"

Trotz Keiras offensichtlich genervter Stimmung, lachte Neo. Ein warmes, dunkles Lachen. „Also wirklich Keira Lane", tadelte er. „Schwänzt du etwa?"

Keira verschränkte die Arme: „Das Gleiche könnte ich dich fragen."

„Ich geh nicht mehr zur Schule."
„Ach."
Kurze Stille, während Keira verwirrt versuchte sich vorzustellen, nicht zur Schule zu gehen. Natürlich war es die pure Folter, aber es gehörte auch irgendwie zum Alltag und schenkte ihr ein wenig Normalität in ihrem Leben.

„Der Zug kommt. Wir müssen fast anderthalb Stunden fahren. Vielleicht solltest du noch ein wenig schlafen, du siehst müde aus."

Keira schnaubte und verkniff sich einen Kommentar zu seinen tiefen Augenringen, die trotz seiner dunklen Haut bestens zu sehen waren. „Danke." Sarkastisch sah sie ihn an, überlegend, ob der Grund, dass Neo sie bat, ein wenig zu schlafen, ihre schlechte Laune war.

Die Tatsache, dass ein dicker Mann Keira beim Einsteigen beinahe in die Spalte zwischen Bahn und Bahnsteig schubste, hob ihre Laune nicht wirklich.

Auch einschlafen konnte sie lange Zeit nicht, denn ein Mann telefonierte so laut, dass jeder im Abteil mitbekam, wie wichtig er war. Neo musste sie zurück halten, denn sonst wäre sie auf ihn losgegangen.

Trotzdem konnte sie sich nicht zurück halten, ihn genervt zu fragen: „Können Sie freundlicherweise etwas leiser telefonieren, manche Menschen wollen nicht unbedingt wissen, was Sie geschafft oder nicht geschafft haben!"

Der Mann sah sie zwar befremdet an, telefonierte jedoch tatsächlich weniger laut. Dann konnte Keira endlich für eine Stunde die Augen schließen. Fast sofort fiel sie in einen leichten Schlaf, der ab und zu durch das Ruckeln des Zuges unterbrochen wurde, aber dann schlief sie immer wieder gleich ein.

Als Neo sie schließlich weckte, weil sie gleich aussteigen mussten, fühlte sie sich besser. Zwar noch immer müde, aber nicht mehr dieses unerträgliche müde, sondern diese Müdigkeit, die man jeden Tag nach dem Aufstehen hatte, wenn man wusste, dass man gleich zur Schule (oder zur Arbeit) musste.

Vom Schmerz der UnverwundbarenWhere stories live. Discover now