4. Kapitel

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Plötzlich schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf und ich wusste ganz genau, wo mein Weg mich hinführte. Luca und ich hatten vor einigen Jahren ein kleines Baumhaus tief in einem der Wälder hier gefunden. Es war dort wahrscheinlich nicht sicher, doch immer noch besser als schutzlos auf der Straße herum zu rennen. Ich zog meinen Rucksack fester an meinem Rücken und sprintete über die Straße. Vorne an der Kreuzung gab es einen schmalen Pfad, direkt Richtung des Waldes. Ich war dort sicher, zumindest vor den Menschen. Mein Herz schlug so schnell und ich befürchtete, dass ich gleich vor Aufregung stolpern würde. Aber ich konnte nicht langsamer laufen. Meine Eltern würden jede Sekunde, die Straße auf der ich mich gerade befand, zurück zum Haus fahren. Als ich darüber nachdachte, wie viel Zeit mir noch blieb um zu verschwinden, bemerkte ich, dass ich komplett alleine auf der Straße war. Keine Menschenseele, weit und breit. Die Stadt war wie leer gefegt. In diesem Ausmaß hatte ich das noch nie zuvor gesehen. Für gewöhnlich war ich um diese Zeit schon längst in Sicherheit. Die Sirene wurde immer lauter und dröhnte in meinen Ohren. Es kam mir vor, als würde sie jede Minute unbarmherziger klingen. Der Schweiß lief mir die Stirn hinunter und mein Atem wurde immer schwerer. Noch ein paar Meter und ich hatte es geschafft. Gerade als ich durch den Pfad verschwinden wollte, hörte ich ein lautes Quitschen von Autoreifen. Ich erschrack so sehr, dass ich mich überschlug und Hals über Kopf gegen einen der Pfeiler knallte. "Verdammt!", brüllte ich und rieb mir mit den Händen den Kopf. Vor lauter Schmerz hatte ich das Auto total vergessen.  Ich hörte das Zuschlagen einer Autotür. Blitzartig fing ich mich wieder und drehte mich erschrocken um. Dort stand mein Vater. Ein paar Meter entfernt von mir. Als er bemerkte, dass ich mich aufrappelte um davon zu laufen, stürmte er auf mich zu. "Yara, bleib stehen!" schrie er, doch ich ließ mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. "Du wirst da draußen sterben, die Blood Crystels werden dich finden und töten!" Er versuchte mich einzuschüchtern, doch im Moment hatte ich viel mehr Angst vor ihm, als vor allen anderen Kreaturen dieser Welt. Ich began zu weinen und rannte noch schneller. "YARA!" In seinem Schrei war eine so tiefe Hilflosigkeit und Verzweiflung heraus zu hören, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte. Nach minutenlangen Sprinten hörte ich ihn nicht mehr. Die Sirene verstummte. Ich hatte es geschafft. Schnaufend kam ich zum Stehen und stützte meine Hände auf meinen Knien ab. Zum ersten Mal hatte ich Zeit mich umzusehen und mich zu beruhigen. Ich blickte in den Himmel und erschauderte am ganzen Körper. Dunkelheit. So sah sie also aus, die Nacht. Ich war ebenso fasziniert, wie erschrocken und konnte mein Glück gar nicht fassen, als ich den Mond entdeckte. "Wahnsinn", stammelte ich total erschöpft, mit offenem Mund und großen leuchtenden Augen. Meine Eltern und der ganze Stress der letzten Monate waren auf einmal vergessen. Es spielte keine Rolle mehr. Ich fühlte mich, wie in eine andere Welt versetzt. Ich war glücklich. Doch bevor ich mich komplett entspannen konnte, musste ich es noch bis zum Baumhaus schaffen. Vater hatte Recht. Hier, einfach so ungeschützt würden sie mich finden. Als mir das klar wurde, biss ich noch einmal die Zähne zusammen und rannte widerwillig los. Etwas ruhiger und langsamer als zuvor, schließlich hatte ich keine Verfolger mehr. Davon ging ich zu dem Zeitpunkt zumindest aus.

Am Ende des Pfades erreichte ich endlich den Wald. Nun waren es nur noch wenige Minuten bis zu meinem Ziel. Ich hatte das Gefühl immer schneller zu laufen, vielleicht war ich doch noch unruhiger als ich dachte. Der Wald war düster und blickdicht. Ich konnte kaum die Hand vor Augen erkennen, orientierte mich größtenteils an meine Erinnerung. "Hier irgendwo muss es doch sein.", fluchte ich leise vor mich her. Ich kam zum Stehen. Irgendwie musste ich mir einen Überblick verschaffen. Ich schnallte meinen Rucksack ab und suchte meine Taschenlampe heraus. Ausversehen knipste ich das Licht direkt vor meinen Augen an und blendete mich, sodass ich zunächst gar nichts mehr sah. "Verdammt." fluchte ich erneut. Als ich es endlich geschafft hatte in die richtige Richtung zu leuchten, wurde mir erst bewusst, was für eine Aufmerksamkeit ich damit gerade auf mich zog.  Schnell sah ich mich um in der Hoffnung ich könnte die Orientierung wieder gewinnen. Die Bäume sahen wie tote Schatten aus. Ihre Äste wie Arme, als wollten sie nach mir greifen. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass die Nacht so gefährlich aussehen konnte. Auf Bildern sah das alles viel harmloser aus, als in der Realität. Ich hörte den Wind. Er pustete kräftig die Blätter der Bäume und Büsche umher, die vor mir lagen. Reflexartig schaltete ich die Taschenlampe aus und drückte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen einen Baum. "War ich noch allein?", fragte ich mich, als ich das Knacken eines Astes vernahm. Mein Atem wurde schwerer und ich blickte ängstlich durch den Wald. Meine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und ich konnte wieder mehr erkennen. Vielleicht war das auch nur Einbildung. Mit einer Hand hielt ich krampfhaft meinen Rucksack fest, in der anderen lag die Taschenlampe. Ich wusste nicht wieso, doch ich hatte auf einmal furchtbare Angst, mich zu bewegen. Dabei musste ich so schnell wie möglich das Baumhaus finden.  Wieder ein Knacken. Mein Körper fing an zu zittern und mein Atem setzte für ein paar Sekunden aus. Ich konzentrierte mich nur noch auf die Geräusche und versuchte die Geräuschquelle ausfindig zu machen. Mein Herz setzte für einen kurzen Moment aus. Was war das? Es hörte sich so an, als würde irgendwo in meiner Nähe etwas knurren. Etwa Ein Tier? Es war ein dumpfes, mächtiges Knurren, als wenn mich ein großer Wolf im Visier hätte und mich jeden Moment angreifen würde. Ich schaute mich ängstlich um, doch konnte nichts sehen außer Baumstämmen und Ästen. Eins stand fest, irgendetwas beobachtete mich. Ich musste hier schleunigst verschwinden.

Blood CrystalsWhere stories live. Discover now