Kapitel II - Geist

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Mein Leben war das eines jeden anderen auch. Weder einfach noch schwierig. Ein Leben voller Höhen und Tiefen. Voller Zweifel und Überzeugungen.

Es war ein Leben. Ein Leben blieb ein Leben.

Dachte ich zumindest.

"Du siehst im Schlaf noch genauso unschuldig aus wie damals. Wie schaffst du es überhaupt mit all der Grausamkeit in dir ruhig zu schlafen? Du bist wahrlich ein Monster." Meine geflüsterten Worte trafen auf taube Ohren.

Seine nackte Brust hob und senkte sich in gleichmäßig langsamen Atemzügen unter den blutroten Bettlaken. Die Glieder von sich gestreckt, als würde er die Welt beherrschen.

Was er auch tat. Meine zumindest.

Seufzend ließ ich den Blick über seine perfekte, gebräunte Haut wandern. Das hatte mir schon damals besonders gut an ihm gefallen. Sie war rein. Ohne den kleinsten Makel. Keine Narbe, keine Irritation, kein Muttermal. Nur die immer gleiche satte, lebendige Farbe, die ich mal so vergöttert hatte. Die ich mal so gern mit meinen Händen und Lippen gehuldigt hatte.

Damals, als ich noch jung und dumm war. Noch nichts vom Elend dieser Welt wusste.

Als ich ebenfalls noch rein war.

Jetzt aber zogen sich grün-blaue langsam ins Schwarze übergehende Blutergüsse meinen Körper hinab. Bedeckten meine bleiche Haut wie Tätowierungen, doch entstellten sie nur noch mehr, anstatt sie zu verschönern.

Er hatte mich ruiniert.

Damals... Da war er noch anders. Ich war anders. Ein dummer, kleiner Junge auf der Suche nach Fürsorge und Hingabe. Nach warmen Armen, die mich nachts in den Schlaf wiegten. Ich wollte Sicherheit, Beständigkeit. Dass der Preis dafür meine Freiheit sein würde, begriff ich erst, als es schon zu spät war.

Viel zu spät war.

Jetzt hasste ich seine Haut. Verabscheute ihre Makellosigkeit, die all seine Sünden verbarg. Die all seine Vergehen verschleierte und aus dem Dämonen einen Engel machte.

Die Rasierklinge in meiner Hand begann zu zittern, als ich daran dachte, welche grotesken Kunstwerke ich auf seine Haut malen könnte. Wie sehr ich ihn ruinieren könnte.

Denn das war die eine Sache, die ich fast noch stärker als meine eigene Freiheit begehrte.

Rache.

Für all das, was er mir schon angetan hatte. Für all das, was er mir noch antun würde.

Ich wollte die selben Qualen in seinen Augen sehen, die er mich hatte erleiden lassen. Ich wollte ihn genauso zu seinem eigenen Sklaven machen, wie er mich in meine eigenen Ketten gelegt hatte. Ich wollte ihn zerstören, wie er mich zerstört hatte.

Mit einem einzigen Biss.

Damals, als wir noch ein einfaches, viel zu junges Pärchen waren. Als wir einfach nur idiotisch verliebt waren. Als ich noch nichts von seiner Welt und den Wesen, die mit ihr kamen, wusste.

Als ich ihm bei unserem ersten gemeinsamen Mal ohne nachzudenken drei kleine, unschuldige Worte voller Extase ins Ohr flüsterte.

Ich liebe dich.

Drei kleine, nichtige Worte. Für einen Menschen zumindest. Wir liebten und wir vergaßen.

Doch für einen Werwolf besaßen sie eine andere Bedeutung. Sie war tiefgründiger.

Und sie traf tief.

So tief, dass er mich bei meinen Worten für die eine Person verwechselte, die ich niemals sein würde. Dass er die Kontrolle über seine innere Bestie verlor und mir deren wahre Gestalt offenbarte. Dass er mich in seiner Gier für seinen Gefährten hielt.

The Wolves in our Souls [LGBT]Where stories live. Discover now